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       # taz.de -- Das A-Team der Hacker-Szene: Das Anonymous-Prinzip
       
       > Das Kollektiv von Hacktivisten wirkte lange wie ein riesiger Schwarm. Das
       > ist nicht die ganze Wahrheit. Anonymous' größte Stärke ist die
       > Manipulation der Wahrnehmung.
       
   IMG Bild: Guy-Fawkes-Maske, das Symbol der Anonymous-Aktivisten.
       
       Vor zwei Jahren bin ich in die Welt von Anonymous eingetaucht. Die
       Zeitungen präsentierten sie als mysteriöse Hacktivismus-Bewegung, über die
       nur wenige Außenstehende Näheres wussten. Ich beschloss, ihre Mitglieder
       kennenzulernen, ihre Geschichten zu erzählen und herauszufinden, wie sie
       arbeiten.
       
       Im Laufe eines Jahres habe ich die Erfahrungen von einigen der
       berüchtigtsten Anonymous-Unterstützer zusammengetragen und in dem Buch „We
       Are Anonymous“ veröffentlicht. In dieser Zeit beobachtete ich, wie junge
       Männer zu wichtigen Organisatoren des Kollektivs aufstiegen. Wie sie ihre
       Splittergruppe LulzSec gründeten. Wie sie einander in den Rücken fielen und
       verhaftet wurden.
       
       Ich begann meine Nachforschungen im Dezember 2010, als Anonymous erstmals
       mit seinen Attacken in den Schlagzeilen auftauchte, mit seinen Angriffen
       auf die Bezahldienste PayPal, Mastercard und Visa. Damit wollte Anonymous
       die Whistleblower-Plattform Wikileaks verteidigen.
       
       Ich kontaktierte die Gruppe über die offizielle E-Mail-Adresse der AnonOps,
       die sich damals als Eliteeinheit von Anonymous präsentierten. Die Person
       hinter der E-Mail-Adresse erzählte mir, dass Anonymous dem Imageboard
       „4chan“ und einer Onlinesubkultur entsprang. Wir skypten. Es war mein
       erster Kontakt mit dem heimlichen Pressesprecher von Anonymous. Er nannte
       sich Topiary.
       
       Später ist Topiary festgenommen worden. In zwei von vier Anklagepunkten
       wegen Hackens hat er sich inzwischen schuldig bekannt. Jake Davis, so sein
       richtiger Name, ist ein schüchterner 19-Jähriger von den britischen
       Shetlandinseln.
       
       Vor 18 Monaten, als er allein in einem Holzhäuschen saß und von kleinen
       Nebenjobs und Sozialhilfe lebte, schrieb Topiary Pressemitteilungen für
       Anonymous. Bediente ihre offiziellen Twitter-Accounts. Und sprach mit
       Journalisten aus der ganzen Welt.
       
       Er war online sehr beliebt, deshalb war er Organisatoren von Anonymous
       aufgefallen, darunter auch einigen Operatoren des Chat-Netzwerks, über das
       das Kollektiv hauptsächlich kommunizierte. Sie luden Topiary in ihre
       privaten Chatkanäle ein und gewährten ihm Einblick in die bislang
       dramatischste Attacke von Anonymous – die gegen den Bezahldienst
       Paypal.com.
       
       ## PayPal-Attacke
       
       Direkt nach dieser Attacke im Dezember 2010 gingen die Medien ebenso wie
       viele Anonymous-Anhänger davon aus, Paypal.com sei von ein paar tausend
       Freiwilligen lahmgelegt worden. Mittels eines einfachen Programms namens
       LOIC, das man sich im Internet herunterladen kann. Mit dessen Hilfe, so
       glaubte man, hätten Anonymous-Anhänger massenweise die PayPal-Seite mit
       Internetanfragen überschwemmt und so überlastet.
       
       Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Auch mit 5.000 Nutzern, die
       gleichzeitig massenhaft Anfragen abfeuerten, war LOIC nicht stark genug, um
       eine Seite wie PayPal komplett außer Gefecht zu setzten. Tatsächlich
       lahmgelegt wurde die Seite, weil zwei Anhänger mitmachten, die Botnetze
       besaßen – mächtige Netzwerke aus Zehntausenden gekaperten Computern, die
       sie für ihre Zwecke fernsteuern können.
       
       Nur dank dieser Unterstützung konnten die Anonymous-Organisatoren
       verkünden, man habe erfolgreich die Webseiten von PayPal, MasterCard und
       Visa abgeschossen.
       
       Die Operatoren des Anonymous-Chatnetzwerks und die wenigen Eingeweihten
       wussten von den Botnetzen, schwiegen aber. Denn sie wollten den Anschein
       wahren, dass die Macht von Anonymous auf Tausenden Menschen beruht, die
       zusammenarbeiten. Die Anonymous-Anhänger sollten glauben, dass sie
       gemeinsam etwas bewirken können – und der Gruppe treu bleiben.
       
       Eine Lektion, wie die Macht von wenigen viele manipulieren kann.
       
       ## Blendwerk und Illusionen
       
       Topiary merkte bald, dass die Organisatoren mit der Wahrheit über die
       tatsächliche Feuerkraft von Anonymous hinterm Berg hielten. Sie ermutigten
       die Unterstützer sogar, die LOIC zu verwenden, obwohl sie weitgehend
       uneffektiv war und ihre Nutzer in Konflikt mit Gesetzen bringen konnte.
       
       Trotzdem schrieb Topiary eine Pressemeldung, in der er den Medien die
       PayPal-Attacke als Beispiel für die Macht des „Schwarms“ Anonymous
       verkaufte. Topiary glaubte, es sei wichtiger, das Bürgerwehrmotiv von
       Anonymous hervorzuheben, als die eher nüchterne Wahrheit zu erzählen.
       
       Das ist nur eine von vielen Anekdoten, die Anonymous’ größte Stärke
       demonstrieren: die Manipulation der Wahrnehmung. Auf Twitter, in
       Pressemeldungen und Interviews mit Journalisten übertrieben
       Anonymous-Anhänger oft die Macht des Kollektivs. Sie nutzten aus, dass die
       Öffentlichkeit fürchtet, was sie nicht kennt.
       
       ## Ein Coup gegen Sicherheitsfirma
       
       Es dauerte nicht lange, und Topiary lernte eine Gruppe talentierter Hacker
       aus Anonymous-Zirkeln kennen. Als kleine Gruppe führten sie mehrere
       Cyberattacken durch – unter anderem Anfang 2011 gegen die
       IT-Sicherheitsfirma HBGary Federal.
       
       Das war ein öffentlichkeitswirksamer Coup, weil er so wahrgenommen wurde,
       als hätte die mysteriöse internationale Hackergruppe Anonymous Korruption
       bei einer Computersicherheitsfirma in Washington aufgedeckt. Tatsächlich
       war es aber erneut eine kleine Truppe, die Anonymous mächtig erscheinen
       ließen. Fast heldenhaft.
       
       Die Attacke auf HBGary schweißte Topiary und seine Clique noch enger
       zusammen. Sie gründeten die Splittergruppe LulzSec. Freie Agenten von
       Anonymous auf der Suche nach Spaß, berühmt und berüchtigt wollten sie sein.
       Sie griffen bekannte Ziele wie den Elektronikkonzern Sony, die
       US-Fernsehsender PBS und Fox sowie die CIA an. Binnen 50 Tagen schafften
       sie es häufiger in die Schlagzeilen, als es Anonymous je gelungen war.
       
       ## Riskante Eitelkeiten
       
       Die Idee der Anonymität warfen die Jungs von LulzSec mehr und mehr über
       Bord: Sie lebten ihre Online-Alter-Egos weiter aus, sie verwendeten über
       Monate hinweg die gleichen Pseudonyme. Vor allem Topiary und der in
       Anonymous-Kreisen berüchtigte Sabu konnten es nicht ertragen, ihre
       Decknamen zu verbrennen, obwohl sie dadurch schwerer zu erwischen gewesen
       wären.
       
       Es war ihnen schwergefallen, sich in der „wirklichen Welt“ selbst zu
       finden. Online aber, in einer Community, die sich selbst als Antihelden und
       Bürgerwehr sah, hatten sie jetzt ihre Rolle und ihren Zweck gefunden. Mehr
       noch, sie waren berühmt.
       
       Und dann implodierte LulzSec. Die Freundschaften brachen auseinander, als
       es brenzlig wurde. Die Mitglieder der Gruppe wurden nach und nach von der
       Polizei in den USA und Großbritannien festgenommen. Es kam heraus, dass
       Sabu als Informant für das FBI gearbeitet hatte. Über Monate hinweg.
       
       Jake „Topiary“ Davis und drei andere junge Männer wurden wegen einer Reihe
       von Vergehen angeklagt, die sie als Teil von LulzSec und Anonymous verübt
       haben sollen. Ihr Verfahren beginnt im April 2013 in Großbritannien.
       
       ## Vorbild abgestürzt
       
       Von einigen Attacken abgesehen ist es seit der Zerschlagung von LulzSec
       ruhig um Anonymous geworden. Teils sind die Anhänger erschüttert, weil
       eines ihrer charismatischsten Vorbilder, Sabu, ein Spitzel war. Teils sind
       sie von der hohen Wahrscheinlichkeit abgeschreckt, selbst verhaftet zu
       werden.
       
       Es ist unmöglich vorauszusagen, in welche Richtung Anonymous sich
       entwickeln wird. Vielleicht wird es nie wieder eine Gruppe wie LulzSec
       geben, es kann sein, dass die Zeiten ihrer aufsehenerregenden Angriffe
       vorbei sind.
       
       Die Geschichte wird Anonymous wahrscheinlich als eine Phase betrachten,
       ähnlich wie die Bewegungen im Dunstkreis der Hippies, Bürgerrechtler oder
       Vorkämpfer für das Frauenwahlrecht. Und so wie diese die Welt verändert
       haben, kann die Bewegung der Hacktivisten und Trolle von Anonymous
       vielleicht dazu beitragen, in ein Zeitalter einer ausgeprägteren
       Netzwerkintelligenz einzutreten.
       
       ## Eine „Do-ocracy“
       
       Dank des Internets werden Institutionen aus dem industriellen Zeitalter auf
       der Basis von modernen Prinzipien generalüberholt. Einer der positiven
       Aspekte, die ich in Anonymous gesehen habe, ist eine Community ohne
       Anführer. Eine „Do-ocracy“, also eine Gemeinschaft, in der
       Verantwortlichkeiten nicht bei gewählten Vertretern liegen, sondern bei den
       Personen, die sich ihre Aufgaben selbstständig aussuchen und handeln.
       
       Diese Community wurde nicht von einer Person geschaffen, sondern von vielen
       Gruppen von Nutzern, die die Welt um sich herum aus unterschiedlichen
       Gründen aufsprengen wollten. Das deutet nicht nur auf eine Revolution des
       Aktivismus hin, sondern auch auf eine Art und Weise, wie wir uns
       organisieren. Hört sich chaotisch an? Stimmt. Aber waren Revolutionen je
       anders?
       
       Übersetzung: Alexandra Friedmann 
       
       Dieser Text erscheint in der sonntaz vom 29. Dezember. Ein ganzes Heft zur
       Frage: Wem gehört da Internet?"
       
       28 Dec 2012
       
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