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       # taz.de -- Die Wahrheit: Hochglanzhöhepunkte
       
       > Das Kunstjahr 2012: Ein ganz persönlicher Rückblick mit Geschmack.
       
   IMG Bild: Angeblich verbindet Andreas Warhol die Oberfläche der Warenwelt mit der Tiefe der Kunstwelt.
       
       Als Mensch mit Geschmack muss man alle paar Jahre auch mal gucken, was sich
       in der Welt der Kunst so tut. Das lohnt alleine deshalb, weil man dort
       Begriffen begegnet, die auf diese Weise nirgendwo anders benutzt werden:
       „Arbeiten“ zum Beispiel für die Kunstwerke selber, egal wie wenig sie mit
       Arbeit zu tun haben, oder „Positionen“ für die schwammigen Aussagen der
       Werke beziehungsweise das begleitende Gequake von Künstlern, Kuratoren und
       anderen Köpfen.
       
       Ein erster Höhepunkt in diesem an Höhepunkten nicht eben armen Jahr war für
       mich daher im Februar die Andy-Warhol-Ausstellung „Headlines“ im
       Frankfurter Museum für moderne Kunst. Gezeigt wurden „Arbeiten“ Warhols,
       die sich mit Zeitungen und Boulevardschlagzeilen befassen. Da die meisten
       von ihnen für Pop-Art nicht bunt genug aussahen, gab es zur Ergänzung einen
       Raum mit den farbenfrohen Klassikern: Brillo-Schachteln, Campbell’s-Dosen
       sowie die alte Kennedy-Büchs Jackie in 35-facher Ausfertigung. Damit man
       deren „Positionen“ auch richtig versteht, wurden Faltblätter mit
       Erklärungstexten gereicht. Zu den Brillo-Schachteln zum Beispiel stand
       vermerkt: „Warhols gestapelte, hohle Kisten sind nichts anderes als die
       Simulation eines Marktstilllebens im 20. Jahrhundert, das die
       Oberflächlichkeit der Warenwelt mit der Kunstwelt verbindet.“
       
       Dieses phrasenhaft funkelnde „sind nichts anderes als“ – das hat mir gut
       gefallen. Viel besser als die lieblos zusammenkopierten Werke des angeblich
       weltberühmten Künstlers Andreas Warhol, denen in Wahrheit doch jedes Genie
       und jede Originalität abgeht!
       
       Erheblich mehr erwartete ich mir deshalb im Juni von dem gediegenen und
       sorgsam gearbeiteten Oeuvre des Ausnahmeartisten Jeff Koons, der seine
       Bilder in der Frankfurter Schirn und seine Skulpturen im Liebieghaus
       ausstellte. Bei der Pressekonferenz war er sogar persönlich anwesend –
       anders als Warhol, der es anscheinend nicht mehr nötig hat. Koons’
       absolutes Meisterwerk „Ilona’s Asshole“ hing in einem nur für Erwachsene
       betretbaren Kabinett: eine anatomische Detailstudie der zeitweiligen
       Koons-Gemahlin Cicciolina. Während der Betrachtung sagte die Begleiterin:
       „Ilona’s Asshole – ist das denn nicht Koons selbst gewesen?“ Eine
       einleuchtende „Position“ inmitten all dieser „Positionen“, wie ich finde.
       
       Noch besser gefiel mir, wie eben diese Begleiterin später all ihren Mut
       zusammennahm und dem Schirn-Boss Max Hollein eine Frage stellte. Dieser
       stand nach einem kleinen Koons-Vortrag zwischen den vom Meister entworfenen
       und von hochspezialisierten Fachkräften angefertigten Skulpturen herum und
       lächelte hilfsbereit. Was denn „a parlour“ (oder so ähnlich) bedeute, jenes
       seltsame englische Wort, das uns das Verständnis der Koons’schen Rede über
       Kunst und Mythologie zuvor verunmöglicht hatte. Kurz angebunden antwortete
       er: „Apollo, also der griechische Gott, englisch ausgesprochen.“ Dabei
       guckte er ganz traurig, dass er so etwas Banales gefragt worden war.
       
       Am tollsten aber war, wie Koons bei der Erläuterung einer seiner „Arbeiten“
       plötzlich vor mir stand: so glatt und rein und makellos wie auf einem Bild
       von ihm – wahrscheinlich wurde er ebenfalls von hochspezialisierten
       Fachkräften angefertigt und jahrelang auf Hochglanz poliert!
       
       Und dann gab es im Spätsommer selbstverständlich noch die größte Kunstshow
       der Welt, die Documenta 13 in Kassel. Bei dieser Monsterausstellung gefiel
       mir sehr gut, dass Chefkuratorin Carolyn Christov-Bakargiev gar nicht so
       abgehoben ist, wie immer alle sagen. Problemlos konnte man sie dabei
       beobachten, wie sie missmutig ihr Fahrrad durch die Einkaufszone schob, und
       kurz danach noch einmal, wie sie bei der improvisierten
       Abschluss-Pressekonferenz von Occupy gelangweilt in ihr iPhone tippte,
       während die Leute von Occupy eine aufrüttelnde und gleichwohl versöhnliche
       Bilanz der Platzbesetzung zogen.
       
       Auch prima war bei dieser Documenta, dass man wie in Disneyworld oder im
       Phantasialand ohne schlechtes Gewissen alle Attraktionen auslassen konnte,
       vor denen zu viele Menschen anstanden – der Selektionsdruck regelt das
       Interesse, ganz simpel. Einzig beim Fridericianum, dem
       Hauptausstellungsort, auf den eine mehrere hundert Meter lange, mehrfach um
       den Friedrichsplatz gewickelte Schlange Schaulustiger zusteuerte, ging das
       selbstverständlich nicht.
       
       Am allerbesten im gesamten Kunstjahr hat mir deshalb gefallen, dass meine
       ortskundige Begleiterin einen schnelleren Weg kannte: nämlich durch die
       öffentliche Toilette, die vom Platz ins Untergeschoss des Hauses führt.
       Während draußen bis zu drei Stunden gewartet wurde, waren wir im Nu drin
       und schauten uns anschließend minutenlang die armen Tröpfe durch die
       Portalfenster an – ein Kunstgenuss sondergleichen! In fünf Jahren wollen
       wir übrigens aus diesem Wissen bares Geld schlagen; verraten Sie’s deshalb
       bitte nicht weiter.
       
       Ergebnis: Klarer Sieg für die Documenta, Koons okay, Warhol hätte nicht
       sein müssen.
       
       28 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mark-Stefan Tietze
       
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