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       # taz.de -- Deutsche bekommen wenige Kinder: Schuld ist der Perfektionismus
       
       > Seit Jahren hat Deutschland eine niedrige Geburtenrate und viele
       > kinderlose Frauen. Grund sind zu viele und zu unterschiedliche
       > gesellschaftliche Vorgaben.
       
   IMG Bild: Zwei Kinder? Ist schon über dem Durchschnitt
       
       BERLIN taz | „Sexymama“, „Me and my mum“, „9 Monate“, „Die wilden Schwäne“.
       Die Namen der Läden sind Programm: Im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg,
       einem der kinderreichsten Areale Deutschlands, wähnt man sich im
       Familienparadies. Geht es hierzulande endlich aufwärts mit der schwachen
       Reproduktionsfreudigkeit?
       
       Nein. Das belegt seit Montag eine Untersuchung des Bundesinstituts für
       Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden und bestätigt damit bekannte
       Fakten: Die Geburtenrate in Deutschland beträgt seit vielen Jahren 1,39
       Kinder pro Frau. Seit den siebziger Jahren gehört der Westen der Republik
       zu jenen Ländern, die über eine hohe Zahl kinderloser Frauen klagen.
       
       Im Osten bekamen die Frauen bis zum Mauerfall durchschnittlich 1,6 Kinder,
       rund 90 Prozent der Ostfrauen hatten wenigstens ein Kind. Woran liegt das?
       Seit Jahren versucht die Politik dagegenzusteuern: Kinder- und Elterngeld,
       Vätermonate, Ausbau der Betreuungsangebote. Warum lassen sich manche
       partout nicht davon überzeugen, dass eigene Kinder eine prima Sache sind?
       
       Das liegt an den Leitbildern, sagt Jürgen Dorbritz, wissenschaftlicher
       Direktor am BiB und dort zuständig für die Kinderstudie. An den zu vielen
       und zu unterschiedlichen Vorgaben der Gesellschaft. Wenn es um
       Zusammenleben, Ehe und Kinder geht, gibt es nichts, woran sich Frauen und
       Männer eindeutig orientieren können, sagt der Soziologe. Und: Zwischen Ost
       und West verläuft bei der Familienfrage noch immer eine deutlich erkennbare
       Grenze.
       
       Im Osten dominiert das Leitbild der Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
       das auch in der DDR gelebt wurde; im Westen traditionell das Leitbild der
       Hausfrau. Das hat Folgen: Ostfrauen bekommen jetzt insgesamt weniger Kinder
       als früher und meist nur ein Kind pro Frau. Nicht wenige Mütter sind
       Alleinerziehende. Für Dorbritz verbergen sich dahinter „Pragmatismus und
       Selbstschutz“: Ein Kind bringt man auch allein und mit geringem Einkommen
       durch.
       
       ## Akademikerinnen sind oft kinderlos
       
       Im Westen bekommen wenige Frauen mehrere Kinder, in der Regel sind die
       Mütter mit den Vätern verheiratet. „Ehe und Kinder sind in den alten
       Bundesländern stärker miteinander verknüpft“, erklärt Dorbritz. Zwar
       bekomme das Hausfrauenleitbild Risse. Das habe zur Folge, dass Frauen, die
       sich dagegen entscheiden, oft ganz auf Kinder verzichteten. Ein Viertel der
       Frauen bis Mitte 40 haben keine Kinder. Von den Akademikerinnen sind 30
       Prozent kinderlos.
       
       Allerdings finden nicht wenige Gebärwillige schlichtweg nicht den richtigen
       Partner oder die richtige Partnerin. Vor allem AkademikerInnen in
       Großstädten vermissen „passende Angebote“, wenn sie nach Studium,
       Berufseinstieg und gesichertem Einkommen eine Familie gründen wollen. Die
       Bamberger Soziologin Adelheid Smolka hat das einmal als „spezifische
       individuelle Präferenzen und paarbezogene Konstellationen“ beschrieben,
       Partnerbörsen verdienen damit viel Geld.
       
       Jürgen Dorbritz erkennt darin das „Leitbild der idealen Partnerschaft“, das
       einhergehe mit dem „Leitbild des deutschen Perfektionismus“: „Alles muss
       gelingen: Beziehung, Finanzen, Beruf, Kinder. Wenn etwas nicht so läuft wie
       erwünscht, dann fühlen sich viele gleich als Versager.“ Das findet der
       Wissenschaftler falsch: „Es gibt nie den perfekten Zeitpunkt.“
       Perfektionisten stünden sich selbst im Wege. „Neue Leitbilder müssen her“,
       fordert also Dorbritz. Wer Familie mit dem Beruf vereinbare, dürfe eben
       nicht als Rabenmutter gelten.
       
       ## Keine Lust
       
       Eine solche Korrektur sei allerdings nicht innerhalb kurzer Zeit zu haben.
       BiB-Fertilitätsforscher Martin Bujard spricht im aktuellen Familienmonitor
       des Familienministeriums sogar von „ein bis zwei Jahrzehnten“.
       
       Was heißt das für die Politik? Wenn es nach Dorbritz ginge, müsste es eine
       „gute Kombination aus Zeit, Geld und Strukturen“ geben: Familien sollten
       nicht nur Eltern- und Kindergeld bekommen, sondern schon früh einen
       Kita-Platz und flexibel arbeiten können.
       
       So sieht das auch die OECD. Die Organisation für wirtschaftliche
       Zusammenarbeit und Entwicklung hat Deutschland gerade eine gravierende
       Nachlässigkeit in Sachen Geschlechtergerechtigkeit bescheinigt: ein Grund
       dafür, dass deutsche Frauen oft keine Lust auf und Angst vor dem
       Kinderkriegen haben.
       
       17 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
   DIR Simone Schmollack
       
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