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       # taz.de -- Kolumne Fernsehen: Der Realitätschecker
       
       > „Tatort“, „Grey's Anatomy“ und Talkshows: Über Realismus und
       > Glaubwürdigkeit im Deutschen Fernsehen.
       
   IMG Bild: Ist vielleicht nicht ganz realistisch. Soll aber schließlich auch nur unterhalten: Der „Tatort“
       
       Mit meinem Kumpel Carsten Fernsehen zu schauen, kann sehr anstrengend sein.
       Carsten gehört zu den Das-ist-doch-nicht-realistisch-Nörglern. Einen
       „Tatort“ guckt er nur, um sich 90 Minuten lang darüber aufzuregen, dass
       doch nun wirklich kein Ermittler sooo handeln würde.
       
       Mit der Gabel in der Hand das Geiseldrama auflösen zu wollen, statt auf das
       Sondereinsatzkommando zu warten, zum Beispiel. Oder überall mit dem Auto
       hinzufahren, um dann 40 Sekunden zwischen Tür und Angel mit dem
       Verdächtigen zu sprechen und dann 60 Kilometer zurückzukacheln.
       
       Oder dass sich die Befragten nie hinsetzen, wenn mit ihnen geredet wird,
       sondern einfach weiter ihrem Tagesgeschäft (Blumen gießen, Bad schrubben,
       Dachstuhl errichten) nachgehen: Interessiert mich ja nicht, dass ich hier
       gerade wegen eines Mordes vernommen werde. Carsten lacht viel während eines
       „Tatorts“. Glücklich wirkt er dabei aber nicht.
       
       Carsten hat mir angeboten, dass ich, sollte ich jemals eine Kolumne über
       Realismus und Glaubwürdigkeit im deutschen Fernsehen schreiben wollen, ihn
       doch anrufen solle. Er hätte noch eine Menge zu erzählen. Ich hab mir den
       Anruf gespart. Kumuliert haben Carsten und ich in den vergangenen zwei
       Jahrzehnten schon Monate gemeinsam vor dem Fernseher verbracht.
       
       ## Ein „Tatort“ ist eben keine Doku
       
       Diese Studie am lebenden Objekt muss reichen – denn sie führt mich immer
       wieder zu derselben Frage: Was will er stattdessen sehen? Zwei Beamte, die
       eine Mappe nach der anderen mit Aktenzeichen versehen, mal eine Order an
       die Sekretärin rausgeben, dass der Herr Maier doch bitte vorgeladen würde,
       Protokolle abtippen und um 12.30 Uhr den Kollegen fragen, ob er mitkomme
       zum Mittag?
       
       Ein „Tatort“ ist nun mal Fiktion, keine Doku. Keiner geht davon aus, dass
       „Emergency Room“, „Grey’s Anatomy“ oder „Scrubs“ auch nur an der Fassade
       der Wahrheit des Arztberufs kratzten, doch beim „Tatort“ oder beim
       „Polizeiruf“ scheinen Spannung und unbedingter Realismus gefordert zu
       werden.
       
       Doch Carsten nerven ja nicht nur die Krimis. Auch sämtlichen Gästen in
       allen Talkshows dieser Republik spricht er die Befähigung ab, über ihr
       Themengebiet Auskunft geben zu können. Am schlimmsten seien die, die über
       den Nahostkonflikt oder den Krieg in Afghanistan schwafeln. Mit einer
       Ausnahme: Peter Scholl-Latour. Dem glaubt Carsten alles, schließlich hat
       der überall schon mal gekämpft. Dass man ihn nicht versteht, weil sich
       dessen Worte schon im Mund überschlagen – was soll’s.
       
       Ich weiß jetzt schon, dass ich mich in der Karwoche 2013 wieder mit Carsten
       vor den Fernseher hocken werde. „Gammeln und Lümmeln“, nennen wir das. Dann
       zeigen Arte und SWR „Zeit der Helden“. Eine Woche lang wird eine Handvoll
       Protagonisten in der Midlife-Crisis begleitet. Jeden Abend eineinhalb
       Stunden quasi in Echtzeit. Der Zuschauer schaltet sich in das – zumindest
       theoretisch – in diesem Moment passierende Geschehen ein. Zwar sind
       Schauspieler am Werk, doch soll das Ganze so nah an der Wahrheit sein wie
       möglich. Mal schauen, ob das seinen Realitätscheck besteht.
       
       14 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürn Kruse
       
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