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       # taz.de -- Kommentar Ägypten: Freiheitskämpfer und Gotteskrieger
       
       > Die Opposition wird in ihrer Mobilisierung immer hysterischer, die
       > Muslimbrüder immer fanatischer. Die politische Polarisierung ist längst
       > nicht beendet.
       
   IMG Bild: Kairo: Protestbanner gegen Mohammed Mursi.
       
       „Die spinnen, die Ägypter“, möchte man frei nach Asterix meinen. Haben die
       Mursi-Gegner für Dienstag zu einem „Eine-Million-Marsch“ aufgerufen,
       mobilisieren Muslimbrüder und Salafisten am gleichen Tag zu einem
       „Zwei-Millionen-Marsch“. Die politische Auseinandersetzung in Kairo
       befindet sich derzeit also auf dem
       „Ätsch-ich-habe-eine-Million-mehr-als-du“-Niveau.
       
       Dabei wissen wir seit Wochen, dass beide Seiten massiv auf der Straße
       mobilisieren können. Die Opposition als Kämpfer für die Freiheit, die
       Muslimbrüder im Namen der Legitimität eines demokratisch gewählten
       Präsidenten.
       
       Die Opposition wird dabei immer hysterischer. Es geht nicht mehr darum,
       gegen die Entscheidungen des Präsidenten zu opponieren und ihn zum
       Einlenken zu bringen. Sie rufen, alles oder nichts, zu dessen Sturz auf.
       
       In der gleichen Zeit werden Muslimbrüder und Salafisten immer fanatischer,
       reden nicht mehr nur von demokratischer Legitimität, sondern von der
       Durchsetzung eines Gottesstaates gegen die Ungläubigen.
       
       Beim Verfassungsreferendum am nächsten Samstag werden aller Voraussicht
       nach die Muslimbrüder als Sieger vom Platz gehen. Die Opposition wird sich
       bis dahin nicht auf eine Strategie zum Referendum einigen. Die einen rufen
       zum Boykott, die anderen dazu auf, mit „Nein“ gegen den Verfassungsentwurf
       zu stimmen.
       
       Damit hat sich die Opposition vor den Wahlurnen erneut verzettelt. Zudem
       werden die Verfassungsbefürworter mit dem Argument punkten können, dass es
       mit dem Aufbau der Institutionen und des Landes nur weitergehen wird, wenn
       diese Verfassung verabschiedet wird.
       
       ## Frage der Machtverhältnisse
       
       Mit der Hoffnung, dass nach dem Referendum in Ägypten auf wundersame Weise
       Ruhe einkehren wird, dürften sie sich allerdings täuschen. Die politische
       Polarisierung ist mit einer Verfassung, die nicht einmal Grundzüge eines
       gesellschaftlichen Konsens beinhaltet, noch längst nicht beendet. Sie wird
       sich auf andere Themen verlagern.
       
       Die Interpretation der sehr widersprüchlichen Verfassung und der Gesetze
       wird am Ende auch eine Frage der Machtverhältnisse sein. Diese verschieben
       sich derzeit nicht zugunsten der Muslimbrüder. Bei der nächsten Wahl
       dürften sich bereits viele, die die Muslimbrüder das letzte Mal aufgrund
       ihrer angeblich gottgefälligen Politik gewählt haben, von ihnen abwenden.
       
       Die Muslimbrüder werden also bald ihre wirkliche Schuhgröße erkennen. Und
       selbst innerhalb der Muslimbrüder führt die Politik des Alleinganges der
       letzten Wochen zu einer inneren Zerreißprobe.
       
       Je mehr die Islamisten ihre Version eines Staates durchzudrücken versuchen,
       umso mehr werden sie für alle Probleme alleine verantwortlich gemacht
       werden. Und in Ägypten schlummert eine ökonomische und soziale Zeitbombe,
       die früher oder später in die Luft gehen wird.
       
       ## „Augen-zu-und-durch“-Politik
       
       Dass die Regierung saftige Erhöhungen der Mehrwertsteuer verkündet und
       Präsident Mursi diese fast im gleichen Atemzug wieder aussetzt, ist ein
       erster Hinweis auf das Dilemma, vor dem jeder Regierende Ägyptens stehen
       wird.
       
       Daraus könnte sich für die Liberalen die Strategie ergeben, den
       Muslimbrüdern immer Paroli zu bieten und alles zu sabotieren, bis sie den
       ägyptischen Karren an die Wand gefahren haben. Die Muslimbrüder könnten es
       mit einer „Augen-zu-und-durch“-Politik versuchen.
       
       Vernünftiger wäre es wahrscheinlich, von den Konzepten „Freiheitskämpfer
       gegen Gotteskrieger“ abzulassen. Weder der Kriegspfad zur Säkularisierung
       noch der heilige Krieg bringen das Land weiter. Beide beinhalten immer das
       Risiko einer Auseinandersetzung auf der Straße, die am Ende keiner mehr
       kontrolliert, und bei der alle verlieren.
       
       Nach einem halben Jahrhundert de facto politischer Abstinenz der
       ägyptischen Bürger, lernen sie nun Politik in der Praxis, mitten in der
       Krise des Landes. Das ist effektiver als so manche Politikseminare der
       Konrad-Adenauer- oder Friedrich-Ebert-Stiftung, aber es ist auch viel
       riskanter als all die Trockenübungen.
       
       Wie sagte schon kurz nach dem Sturz Mubaraks einer der Tahrir-Aktivisten:
       Fußball lernt man nicht im Fitnessstudio, sondern indem man raus aufs Feld
       geht und spielt.
       
       11 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karim Gawhary
   DIR Karim El-Gawhary
       
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