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       # taz.de -- Mit dem Rad in ein Roma-Slum: Aufgeklärter Armutsporno?
       
       > Die ostslowakischen Roma waren sichtlich überfordert mit der
       > Radler-Invasion. Warum die Begegnung auf einer politischen Radreise trotz
       > alledem gelang.
       
   IMG Bild: Lunik: Die Plattenbausiedlung am Stadtrand von Kosice wurde in den 60er und 70 Jahren gebaut.
       
       „Deutsche Touristen auf Trekking-Bikes begutachten Roma-Slums“, sagte meine
       Freundin Juliana aus Kosice ins Telefon. „Das hat gerade noch gefehlt.“
       Mein Gesicht verzog sich. Kritik hatte ich von ihrer Seite vermutet, aber
       nicht so schnell. „Ich bin aber Journalist“, hielt ich dagegen, „und ich
       werde darüber schreiben. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied – oder?“
       
       Hinter dem einwöchigen Trip unter dem Motto „Zwischen Lethargie und
       Aufbruch, Resignation und Selbstorganisation: Eine politische Radreise in
       die Heimat der Roma in der Ostslowakei“ steht der Berliner Veranstalter
       „Politische Radreisen“.
       
       Die Expedition gehört in die immer modischere Rubrik „politischer
       Tourismus“. Bildungsreisen zu politischen Themen schießen wie Pilze aus dem
       Boden, gerade solche mit linkem Anstrich. Statt auf Mallorca Cocktails zu
       schlürfen oder an der Adria an der eigenen Bräune zu arbeiten, besucht man
       Slums in Honduras oder die Elendshütten der Arbeitsmigranten in Malaysia.
       
       Auch das Angebot der taz zu „Reisen in die Zivilgesellschaft“ hat sich in
       den letzten Jahren stark vergrößert. Es schließt Reisen zum Ort des
       Massakers von Srebrenica/Bosnien-Herzegowina, in den vom Krieg gezeichneten
       Gazastreifen und nach Ruanda („Leben nach dem Völkermord“) ein – alle
       Reisen unter fachkundiger Leitung der vor Ort stationierten
       taz-Korrespondenten.
       
       ## Eine Ein-Mann-Veranstaltung
       
       „Politische Radreisen“ ist eine Einmannveranstaltung. Betreiber ist Thomas
       Handrich, Politikwissenschaftler und früherer Osteuropareferent der
       Heinrich-Böll-Stiftung. Der 51-Jährige arbeitet seit Jahren als Berater für
       eine NGO, die es Roma-Jugendlichen ermöglichen will, ihre Belange selbst in
       die Hand zu nehmen.
       
       Der einwöchige Ausflug in die Ausläufer der Karpaten kostete jeden der 15
       TeilnehmerInnen 800 Euro – ohne Fahrradausleihe. 50 Euro davon gingen als
       Spende an regionale Roma-Jugendgruppen.
       
       Im Gegensatz zu meiner Freundin Juliana hatte ich zu Reisebeginn das
       Gefühl, dass diese Expedition politisch korrekt verlaufen könnte, dass dies
       aber von mehreren Faktoren abhängen würde.
       
       ## Nur einige Kritikpunkte
       
       Die erste Frage war, ob unsere Reise zu einem voyeuristischen „Armutsporno“
       verkommen oder eine wirkliche Begegnung ermöglichen würde. Seit Ende der
       Reise bin ich überzeugt: Unsere Expedition war gerechtfertigt – mit einigen
       Einschränkungen, einigen Kritikpunkten.
       
       Vor allem die Motivationen der Teilnehmer beseitigten viele meiner Zweifel.
       In der heterogenen Gruppe waren ein Mitglied der Linken-Bundestagsfraktion,
       ein Dozent, der an der Berliner Alice-Salomon-Hochschule über
       Antiziganismus forscht, eine Soziologiestudentin, die zum Thema
       Roma-Migration in Bulgarien und Rumänien arbeitet, eine Pastorin, deren
       Gemeinde Roma-Flüchtlinge betreut, drei Journalisten, eine 17-jährige
       Berlinerin mit Roma-Hintergrund und ein Fahrradfan, der sich wenig für Roma
       interessierte.
       
       Ein Kreuzberger Hausbesetzer erklärte, er wolle sich mit seinen Vorurteilen
       gegen Roma konfrontieren. Er hatte einen neuen Job als Hausmeister in einem
       Flüchtlingsheim gefunden, in dem viele Roma leben.
       
       ## Der Störfaktor: eine große Gruppe
       
       Obwohl niemand in der Gruppe nach billigem Nervenkitzel suchte, erwies sich
       der erste Besuch in einem Roma-Dorf östlich von Kosice als schwierig.
       Zusammen mit dem Organisator, den Übersetzern und einer slowakischen
       Sozialarbeiterin waren wir an die 20 Personen – eindeutig zu viele.
       
       In dem beengten Büro des Bürgermeisters oder dem des lobenswerten
       NGO-Projekts kamen wir mit unseren Rädern und Helmen in der Hand an wie der
       sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen.
       
       ## Eine unüberwindbare Mauer
       
       Die Mauer zwischen „uns“ und „ihnen“ schien mindestens zwei Meter dick. Die
       ländlichen ostslowakischen Roma waren sichtlich überfordert mit der
       Invasion der Fremden.
       
       Wer waren diese Leute? Und was wollten sie hier? Ganz offensichtlich waren
       noch nie so viele Goretex-gekleidete Deutsche in ihre Berufsschule oder
       ihren Jugendclub eingefallen.
       
       Trotzdem beantworteten die Roma unsere vielen, vielen Fragen nach bestem
       Wissen und Gewissen. Dabei wurde natürlich viel fotografiert – bis die
       Deutschen den Ort des Geschehens verließen, ihre Bikes bestiegen und zum
       nächsten Rendezvous auf der Tagesordnung radelten.
       
       Die meisten Radfahrer begriffen aber, dass dieser Tag eins nicht gut
       gelaufen war. Eine slowakische Übersetzerin äußerte sehr klar ihr Unbehagen
       an der Situation. Es folgten Diskussionen, Selbstkritik, Kritik,
       Selbstkritik – sehr geduldig, sehr gründlich, sehr deutsch.
       
       ## Fehlende Informationen
       
       Klar wurde, dass vielen Teilnehmern zum Verständnis notwendige
       Informationen fehlten. Fast alle empfanden die Distanz zwischen uns und den
       Roma als unangenehm. Irgendwie musste viel mehr Dialog und Sensibilität
       her.
       
       Der Rest der Reise lief viel besser – mit ein paar Ausnahmen. Die bereits
       erwähnte slowakische Dolmetscherin weigerte sich, aus ihrer Sicht
       unangemessene Fragen zu übersetzen. So wollte einer der Journalisten von
       einem arbeitslosen Rom wissen, was er denn jetzt den ganzen Tag so treibe.
       
       Die Roma selbst schienen wir wenig zu stören. Auf unsere Nachfrage sagten
       sie, dass sie dankbar dafür seien, dass sich Leute von außerhalb für ihre
       Lebensumstände interessieren.
       
       Als wir eines Abends, gut abgefüllt mit Bier und Grillwürsten, durch eine
       der Roma-Siedlungen rollten, applaudierten die Kinder und Jugendlichen wie
       bei der Tour de France.
       
       ## Die Gruppe zeigt etwas von sich
       
       Einige Roma-Jugendliche improvisierten eine Tanzaufführung für die Gäste,
       die Radfahrertruppe revanchierte sich mit einigen Liedern. Zwar blieb
       unsere Performance weit, weit unter ihrem Niveau – aber wir hatten die
       passive Rolle zumindest einmal durchbrochen und etwas von uns gezeigt.
       
       Der schwierigste Punkt unserer Reise war der Besuch in Lunik IX. Die
       heruntergekommene Hochhaussiedlung am Stadtrand von Kosice ist für
       Roma-Slums, was Manchester für den frühen Industriekapitalismus war.
       
       Lunik IX. ist der größte und düsterste Slum in Zentraleuropa. 9.000 sehr
       arme Roma leben hier in fensterlosen Plattenbauten. Strom und
       Zentralheizung wurden vor Jahren abgestellt.
       
       ## Privatspäre respektieren
       
       In Lunik IX. waren schon so viele Journalisten und Reisegruppen, dass der
       Stadtteil ein eigenes Infobüro eröffnen könnte, sagte meine Freundin
       Juliana hämisch. Oder Eintrittskarten verkaufen.
       
       Unsere Gruppe betrat aus Respekt vor der Privatsphäre keinen Wohnblock.
       Stattdessen besuchten wir die lokale Kindertagesstätte. Wir verließen die
       Kita mit kleinen handgemachten Geschenken der Kinder. Eines davon ziert
       jetzt meine Kühlschranktür.
       
       Der Organisator ist dafür zu loben, dass unsere Tour nicht nur zu den
       Hotspots führte, wie bei typischen Zweitagejournalistenreisen in die
       Region. Wir trafen Roma aus unterschiedlichen sozialen Schichten und
       Lebensbereichen.
       
       Unsere Gesprächspartner nahmen sich Zeit, um uns die soziale Heterogenität
       der Roma-Gesellschaft zu erklären. Wir sprachen mit verschiedenen Menschen,
       von Sozialarbeitern bis zu Kulturschaffenden, deren Perspektiven es uns
       ermöglichten, die kompexe Lebensrealität der Roma besser zu verstehen.
       
       ## Intellektuelle Besserwisser?
       
       Beim Besuch bei der Vizebürgermeisterin von Kosice wussten wir viel mehr
       als am Anfang unserer Reise. Genug jedenfalls, um ihr viele unangenehme
       Fragen stellen zu können. So viele, dass eine der Roma-Aktivistinnen, die
       uns zu dem Gespräch begleitet hatte, die Bürgermeisterin zu verteidigen
       begann.
       
       Ihre Roma-NGO arbeitet mit der Politikerin, die gerade neu gewählt wurde,
       täglich zusammen. Vielleicht schadet unsere geistreiche Intervention, ohne,
       dass wir das gewollt hätten, mehr, als sie nutzte.
       
       ## Kleinere Gruppen
       
       Bei einem Pilotprojekt – und das war diese erste politische Radreise zu den
       Roma in der Ostslowakei – klappt natürlich nicht immer alles. Alle
       Teilnehmer stimmen zu, dass die nächste Expedition eine bessere Einführung
       braucht – vor dem ersten Besuch in einer Siedlung oder einem Slum. Und dass
       die Gruppe kleiner sein sollte.
       
       Auch die Einbettung des Themas in regionale und europäische Politik der
       vergangenen Jahrzehnten kam – mitten in der EU-Dekade der Roma-Integration
       – zu kurz.
       
       Zudem müssen das nächste Mal Regeln zum Fotografieren, zu unangenehmen
       Fragen und der Rolle von Journalisten ganz am Anfang besprochen werden:
       Sollen Letztere sich benehmen wie auf jeder anderen Journalistenreise? Oder
       dem gleichen Kodex folgen wie die politischen Touristen?
       
       ## Vom Touristen zum Multiplikator
       
       Ich empfinde die Reise als Erfolg. Jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer hat
       heute ein klareres, vielschichtigeres Bild von den Roma und einem der
       schwerwiegendsten Probleme Europas, als man es aus allen Medien zusammen
       beziehen könnte.
       
       Fast jeder hat etwas über Roma erfahren, was ihre oder seine politische
       oder berufliche Arbeit beeinflussen wird. Wir sind als Touristen
       losgefahren – und als Multiplikatoren zurückgekommen.
       
       Was heißt das generell für politischen Tourismus? Es kommt darauf an, wie
       man ihn betreibt. Und wer. Und warum. In jedem Fall sind viele Diskussionen
       über genau diese Fragen erforderlich.
       
       Übersetzung aus dem Englischen: Rüdiger Rossig
       
       9 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Hockenos
       
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