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       # taz.de -- Friedensnobelpreis für die EU: EU, öffne dich!
       
       > Am Montag erhält die EU den Friedensnobelpreis. Zeit, dass sie ihre
       > Bürger endlich repräsentiert – bislang treffen die Staatschefs ihre
       > Entscheidungen lieber alleine.
       
   IMG Bild: Demokratie in Gefahr?
       
       BRÜSSEL taz | Anfang November noch pries Angela Merkel die Volksvertreter
       im Europäischen Parlament. In einer Rede sprach sie dort von „gemeinsamen
       Projekten“, gar von „Verbündeten“. Beeindruckende Worte Angela Merkels: ein
       klares Bekenntnis zur gleichberechtigten Rolle des Europäischen Parlaments
       in der EU-Gesetzgebung war es. Sogar der sonst eher skeptische Präsident
       der Abgeordnetenkammer, der Sozialdemokrat Martin Schulz, nickte zustimmend
       und dankte.
       
       Nur zwei Wochen später passierte dann etwas ganz anderes: Gegen den Willen
       der EU-Parlamentarier ernennen Merkel und ihre 26 Kollegen den Luxemburger
       Yves Mersch zum neuen Mitglied im Rat der Europäischen Zentralbank. Nicht
       dass die Abgeordneten etwas gegen den Luxemburger als Person hätten. Sie
       hatten ihm mehrfach die Kompetenz bescheinigt. Aber sie hatten die
       Mitgliedsstaaten ausdrücklich aufgefordert, eine Frau in das von Männern
       dominierte Gremium zu berufen.
       
       Mehrfach wandten sie sich mit Briefen an die 26 Regierungschefs und an den
       Ratspräsidenten Hermann Van Rompuy. Sogar Alternativvorschläge legten sie
       vor. Aus der Geschlechterfrage wurde ein Kräftemessen zwischen Parlament
       und Rat. Der Wunsch der Volksvertreter wurde ignoriert. Sieht so Demokratie
       aus?
       
       In der von der Krise terrorisierten EU sehr wohl. Die Staats- und
       Regierungschefs reden gerne von Mitbestimmung und Volksnähe. Entscheidungen
       treffen sie lieber alleine. Im Falle Mersch hätten sie beweisen können,
       dass die Meinung des Parlaments zählt. Aber sie haben sich bewusst über
       dessen Aufruf hinweg gesetzt.
       
       ## Ohne demokratische Kontrolle
       
       „Die Krise ist ein Notstand, der keine demokratischen Verfahren zulässt“,
       sagt der grüne EU-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit. Letztendlich komme es den
       27 Regierungen entgegen, dass sie – immer mit Hinweis auf den drohenden
       Zusammenbruch der Eurozone – ganz alleine entscheiden können. Nahezu ohne
       jede demokratische Kontrolle.
       
       „Das ist die genetische Veranlagung von Regierungen“, meint Cohn-Bendit. In
       der Krise wird besonders deutlich, dass die EU noch immer an einem
       Demokratiedefizit krankt: Das EU-Parlament hat nicht die volle Macht einer
       Kammer, die die Regierung kontrolliert. Und die nationalen Parlamente
       können diese Rolle in der Krise nicht übernehmen. Der deutsche Bundestag
       muss jedem Hilfspaket für die Griechen zustimmen.
       
       Aber stellen wir uns vor, das wäre in allen 27 EU-Staaten so. Die Zahlung
       der Hilfstranchen würde sich erheblich verzögern. Und was tun, wenn zwar 19
       Staaten zustimmen, aber 7 Parlamente die Gelder nicht nach Athen schicken
       wollen? Gilt dann das Mehrheitsprinzip einer Demokratie oder das Vetorecht?
       
       ## Hinter verschlossenen Türen
       
       Es gibt dafür keine entwickelten Verfahren. In der Krise führt das dazu,
       dass die Regierungen entscheiden, ohne sich dafür irgendwo rechtfertigen zu
       müssen. Die parlamentarische Kontrolle ist praktisch außer Kraft gesetzt.
       Denn das Europäische Parlament hat in Fragen der Wirtschafts- und
       Finanzpolitik kaum Mitsprache. Stattdessen entscheiden Angela Merkel und Co
       hinter verschlossenen Türen bei ihren Gipfeltreffen in Brüssel. Mit dem
       Zählen kommt man kaum noch nach. Mittlerweile treffen sich die 27 fast
       monatlich in der EU-Hauptstadt.
       
       Für die amerikanische Professorin und Europapolitik-Expertin Vivien Schmidt
       ist das eindeutig ein Fehler der demokratischen Legitimität: „Die Staats-
       und Regierungschefs scheinen zu glauben, dass diese Gipfelentscheidungen
       höchst demokratisch sind, weil sie – zumindest indirekt – ihre Bürger
       repräsentieren. Das Problem ist, dass diese von Kuhhandel bestimmten
       Treffen nichts mit einem öffentlichen demokratischen Raum zu tun haben.“
       
       Die Regierungschefs entscheiden geleitet von nationalen Interessen. Heraus
       kommen Kompromisse, die die Machtinteressen der Regierungen befriedigen.
       Echte Lösungen für die Krise sind das selten.
       
       ## Sparen nur da, wo es selbst nicht weh tut
       
       Die Verhandlungen um den nächsten mehrjährigen Haushalt für die EU sind
       dafür ein eindrückliches Beispiel: Viele Länder, auch Deutschland, wollen
       sparen. Die EU soll das auch. Allerdings wollen die Regierungen nur da
       kürzen, wo es ihnen selbst nicht weh tut. Deutschland und Frankreich haben
       etwa in einem gemeinsamen Brief erklärt, dass bei den Agrarsubventionen,
       die noch immer 40 Prozent des EU-Budgets ausmachen, auf keinen Fall gekürzt
       werden darf. Ob die Mehrheit der Deutschen und der Franzosen genauso denkt?
       
       Die Bauernlobby jedenfalls ist mächtig. Also blockieren die Regierungen in
       Brüssel jeden Kompromiss. Die Liste ließe sich fortsetzen. Der Satz „Krisen
       sind auch Chancen“ ist abgegriffen. Aber was die politische Struktur der EU
       angeht, muss genau das gelten: Die Politiker müssen die Chance nutzen und
       tiefgreifende institutionelle Änderungen zulassen. Die EU-Kommission muss
       zu einer echten Regierung werden. Der Rat der Mitgliedsstaaten zur zweiten
       Kammer des Parlaments.
       
       Und die EU-Abgeordneten müssen die volle Kontrolle über die EU-Politik
       bekommen – auch in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Jetzt ist der
       Zeitpunkt, damit anzufangen.
       
       7 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ruth Reichstein
       
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