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       # taz.de -- Essayfilm von Emigholz: Wo hört das Gebäude auf?
       
       > Heinz Emigholz hat einen neuen Film für die Serie „Architektur als
       > Autobiografie“ gemacht: Über die französischen Architekten Perret.
       
   IMG Bild: Eglise Saint-Joseph, Le Havre 1954.
       
       Zeitgleich mit den ersten Erfolgen der kommerziell orientierten, vor allem
       in München ansässigen Regisseuren des Neuen Deutschen Films begann in den
       sechziger Jahren eine Generation junger Avantgardefilmer, eine eigene,
       radikalere Idee von Autorenkino zu entwerfen.
       
       Damals standen sie im Schatten der Spielfilmregisseure, längst aber wäre es
       Zeit für eine Umwertung: Die Essay- und Experimentalfilme, die in den
       letzten Jahrzehnten vor allem in Hamburg und Berlin entstanden sind, haben
       sich als folgenreicher erwiesen als die Spielfilme der Münchner, als
       anschlussfähiger in der sich zur Kunst hin entgrenzenden Filmszene der
       Gegenwart.
       
       Und vor allem haben zumindest einige der Avantgardisten Produktionsformen
       gefunden, die ihnen eine kontinuierliche filmische Arbeit über alle Krisen
       des Kinomarkts, alle Umbrüche in den Förderungssystemen hinweg
       ermöglichten. Für niemand gilt das mehr als für Heinz Emigholz, der etwas
       später, Anfang der Siebziger, seine ersten Filme drehte und der in den
       letzten Jahren mit seiner Serie „Architektur als Autobiografie“ ein ganz
       und gar eigensinniges Projekt vorgelegt hat.
       
       Seine Filme bewegen sich entlang der Werkbiografie einzelner Architekten
       der westlichen Moderne: unter anderem Rudolf Schindler, Adolf Loos, jetzt
       Auguste und Gustave Perret. Auf sprachlichen Kommentar verzichtet Emigholz,
       stattdessen sucht er mit seiner Kamera einzelne Bauwerke auf und filmt sie
       aus einer Vielzahl von Perspektiven. Die Auswahl der Blickwinkel beschränkt
       sich auf solche, die von einem Besucher des Bauwerks nachvollzogen werden
       können. Kamerabewegungen gibt es keine, Zusammenhänge entstehen nur durch
       die Montage.
       
       ## Auch für absolute Architekturlaien
       
       Und die Art, wie sich diese Zusammenhänge herstellen, wie sich auch für
       absolute Architekturlaien eine Idee von Raumkunst als Bedeutungssystem
       ausprägt, überrascht mit jedem Emigholz’schen Porträtfilm aufs Neue. Es hat
       wohl etwas damit zu tun, dass die Filme nicht vom Ganzen, das ein Bauwerk
       ist, oder von der Idee, die es vielleicht am Ende darstellt, ausgehen,
       sondern dass sie es induktiv, ohne Vorurteile, Schritt für Schritt – und
       jedes ein wenig anders – erschließen.
       
       Der neue Film bildet eine außerordentliche Spannbreite an Gebäudetypen ab.
       Die Brüder Auguste und der weniger prominente Gustave Perret arbeiteten als
       Architekten und Bauingenieure im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts und
       auch in der damaligen französischen Kolonie Algerien. Auguste Perret
       spezialisierte sich auf großformatige, aufwändige Konstruktionen und gilt,
       wie der Italiener Pier Luigi Nervi, dessen Arbeiten Emigholz’ letzter Film
       „Parabeton“ porträtierte, als ein Meister des Betonbaus.
       
       Die Aufnahmen, die Emigholz wie stets doppelt datiert – Jahr des Baus und
       Tag der Filmaufnahme – umfassen fünf Jahrzehnte Architektur- und
       Weltgeschichte: 1904 entstand ein erstes Wohnhaus in Paris, 1955 vollendete
       er die Rekonstruktion des im Zweiten Weltkrieg zerstörten historischen
       Stadtkerns von Le Havre.
       
       Die Le-Havre-Sequenz in Emigholz’ Film ist ein Bravourstück sondergleichen
       – und endet mit einer formalen Überraschung, die hier nicht vorweggenommen
       werden soll. Was sich in anderen Passagen des Films bereits andeutet,
       findet in diesem Schlusssegment seine Vollendung: Emigholz löst sich,
       stärker als in den Vorgängerfilmen, von einem Werkbegriff, der von dem
       einzelnen Bauwerk und dessen immanenten Formprinzipien ausgeht.
       
       ## Säulen und Treppenkonstruktionen
       
       Es gibt zwar nach wie vor ein Interesse an wiederkehrenden Elementen – vor
       allem Säulen und Treppenkonstruktionen –, doch immer mehr öffnen sich die
       Gebäudeporträts auf die Umgebung, ihre städtebauliche Umschließung, die oft
       auch eine Form von Entgrenzung ist.
       
       Augenfällig wird das vor allem in den in Algerien entstandenen Aufnahmen.
       Nicht immer ist da ohne Weiteres zu erkennen, wo das von Perret entworfene
       Gebäude beginnt und wo es aufhört. Viele seiner nordafrikanischen Bauten
       sind große Krankenhäuser, deren kompletten Umfang auch Emigholz’
       unaufgeregte, synthetische Montage nicht zu fassen bekommt; eingelassen in
       unübersichtliche, belebte Straßenzüge, die über das dezent Kontinuität
       stiftende Sounddesign in den Film eindringen, geben sie nur noch eine
       Ahnung von ihrer ursprünglich in einen kolonialen Raum hinein entworfenen
       Form.
       
       ## „Perret in Frankreich und Algerien“. Regie: Heinz Emigholz. Essayfilm,
       Deutschland 2012, 110 Min.
       
       30 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lukas Foerster
       
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