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       # taz.de -- Indymedia steht vor dem Aus: Vom modernen Netz überholt
       
       > Manchmal vergehen drei bis vier Wochen zwischen zwei Beiträgen: Der
       > deutsche Ableger des linken Internetportals Indymedia erstarrt langsam.
       
   IMG Bild: Die Ankündigung des nahenden Endes hat kaum jemand außerhalb der linken Szene zur Kenntnis genommen
       
       Die deutsche P[1][lattform des unabhängigen Internetportals Indymedia]
       steht vor dem Aus. Wenn sich bis Frühjahr 2013 nicht wieder mehr
       Unterstützer finden und keine neue Software an den Start gehen kann, wird
       das deutsche Indymedia nach mehr als zehn Jahren deaktiviert – wie in
       Österreich, wo Indymedia bereits im Juli 2012 stillgelegt wurde und nun nur
       noch ein Archiv ist. Mittwochabend sind etwa 15 Leute in ein linkes
       Veranstaltungszentrum in Hamburg St. Pauli gekommen, um zu diskutieren, wie
       es weitergehen kann.
       
       Indymedia, kurz für Independent Media Center, wurde 1999 zum WTO-Gipfel in
       Seattle gegründet. Demonstranten lieferten Bilder und Texte und brachten
       konventionelle Medien dazu, Falschmeldungen zu widerrufen – die Fotos von
       eingesetzten Gummigeschossen waren stärker als die Behauptung der Polizei,
       sie habe darauf verzichtet.
       
       Das Netzwerk etablierte sich schnell als verlässliche Informationsquelle
       abseits des Mainstreams. Weltweit gründeten sich Ableger, und 2001 ging das
       deutsche Indymedia rechtzeitig zum Castortransport online. Hörten die
       Castorgegner bis dahin stündlich die Nachrichten im Lokalradio, um zu
       erfahren, wo der Transport steckte, reichte jetzt ein Blick auf Indymedia.
       
       „Vor zwölf Jahren war die Open-Posting-Technik noch neu, die Leute konnten
       erstmals ohne Programmierfähigkeiten eigene Beiträge veröffentlichen“,
       sagte einer der drei Aktivisten – ihre Namen wollen sie in der Zeitung
       nicht lesen – auf dem Podium. Mittlerweile ist die Indymedia-Software aber
       längst nicht mehr auf dem aktuellen Stand. Kommerzielle Anbieter sind
       schneller und besser, nur eben nicht anonym.
       
       ## Stärker als die Polizei
       
       Als in Ägypten die Revolution hochkochte und einige Aktivisten nach
       Postings bei Facebook im Gefängnis landeten, seien Anfragen nach einem
       ägyptischen Indymedia gekommen. Grundsätzlich gäbe es also noch Bedarf an
       einer sicheren Plattform, auf der anonym und angstfrei über den Widerstand
       berichtet werden könne. Allerdings haben in Deutschland die meisten
       politischen Gruppen mittlerweile ihren eigenen Blog. Web 2.0 habe sie
       überholt, und nun müssten sie irgendwie reagieren. Eine Vernetzung mit
       nichtkommerziellen Blogs könnten sie sich vorstellen, aber das lässt die
       überalterte Software nicht zu.
       
       Und Indymedia verliert gleich auf mehreren Ebenen Unterstützer. Das
       Kernteam, das sich um die Moderation der Beiträge und die technische
       Entwicklung kümmert, ist seit 2001 bundesweit von 100 auf 15 geschrumpft.
       Die Zugriffszahlen sinken, und manchmal vergehen drei bis vier Wochen
       zwischen zwei Beiträgen. Und es fehlt Geld. Indymedia erstarrt langsam.
       „Wenn die Moderation schläft, sieht man das zum Beispiel daran, dass
       Nazi-Postings erst viel zu spät von der Seite gelöscht werden“, sagte ein
       Aktivist auf dem Podium.
       
       ## Zensurvorwürfe
       
       Nun überlegen sie, die Kommentarfunktion abzuschalten. Indymedia sollte nie
       ein Diskussionsforum sein, die geposteten Beiträge sollten nur inhaltlich
       ergänzt werden. Inzwischen fänden aber fast nur noch Kommentarschlachten
       statt, die aus Sicht der Moderatoren schwer in den Griff zu kriegen seien.
       Auf der anderen Seite wird ihnen Zensur vorgeworfen – keine gute Debatte
       für eine Plattform, die offen sein will.
       
       In den Anfangszeiten wurde Indymedia von den etablierten Medien noch viel
       verfolgt, aber spätestens seit dem G-8-Gipfel in Heiligendamm geht es
       stetig bergab. Und die Ankündigung des nahenden Endes hat kaum noch jemand
       außerhalb der linken Szene zur Kenntnis genommen. Mitte Dezember wollen
       sich die AktivistInnen wieder treffen und schauen, wie es weitergeht.
       
       30 Nov 2012
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://de.indymedia.org
       
       ## AUTOREN
       
   DIR I. Kreutzträger
   DIR L. Kaiser
       
       ## TAGS
       
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