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       # taz.de -- Piraten-Parteitag in Bochum: Träume von einer besseren Welt
       
       > Die Anträge für das Piraten-Parteiprogramm gleichen einer
       > Wünsch-dir-was-Liste. Ob das reicht, um die Leerstellen zu Wirtschaft und
       > Außenpolitik zu füllen?
       
   IMG Bild: Die Anträge für das neue Parteiprogramm: Wie eine bunte Wünsch-dir-was Liste.
       
       BERLIN taz | Wenn man die 1.464 Seiten Antragsbuch durchgelesen hat und
       sich die Welt vorstellt, die entstünde, wenn alles so umgesetzt ist, muss
       man unweigerlich selig lächeln. Es wäre eine bessere Welt: Landwirtschaft
       ohne Gentechnik und Massentierhaltung, man bekommt einen guten Mindestlohn
       bezahlt, wenn man überhaupt arbeiten will. Wer will, kann kostenlos mit dem
       Zug durch ganz Europa fahren und hat selbstverständlich jederzeit optimalen
       Zugang zum Internet.
       
       Die Piratenanträge gleichen einer schier unüberschaubaren
       Wünsch-dir-was-Liste. Es wäre aber unfair, dieses Gesamtbild so stehen zu
       lassen und undurchdachte oder schlicht populistische Vorschläge als
       repräsentativ anzusehen. Denn die Anträge für den Piratenparteitag am
       Wochenende in Bochum sind von Inhalt und formaler Qualität so heterogen wie
       die Piraten. Und: Vorher wird nichts aussortiert, das widerspräche dem
       basisdemokratischen Prinzip der Partei.
       
       Personalentscheidungen stehen nicht an auf dem zweiten Bundesparteitag in
       diesem Jahr, die Piraten wollen vielmehr festzurren, für was sie eigentlich
       stehen. Vor allem auch in der Außen- und Wirtschaftspolitik – denn da ist
       das Programm noch sehr leer.
       
       Es geht für die Piraten also um einiges, nämlich darum, ob sie fit werden
       für den Bundestagswahlkampf. Und ob sie ihr Anliegen, vor allem auch die
       Art und Weise der Politikgestaltung aktiv zu ändern, verwirklichen können.
       Noch immer klebt ihnen das Label „Internetpartei“ an, die außer Transparenz
       und Beteiligung nicht viel zu bieten hat. „Dazu haben die Piraten noch
       keine Meinung“ – ist dieser Satz bald Geschichte?
       
       In welche Richtung sich das Piratenprogramm entwickeln wird, ist schwer
       vorherzusagen. Die Partei kennt keine Delegierten, die Basis entscheidet,
       zumindest jene der mehr als 34.000 Mitglieder, die zum Parteitag kommen.
       Zwischen 1.500 und 2.000 Teilnehmer werden erwartet. Wer kommt, wer wie
       abstimmt und für welche Anträge die nötige Zweidrittelmehrheit erreicht
       wird – das ist völlig offen.
       
       ## Vielleicht den Verfassungsschutz abschaffen?
       
       Rund 800 Anträge wurden gestellt. Zum Grundsatz- und zum Wahlprogramm für
       die Bundestagswahl, für Satzungsänderungen und Positionspapiere. Für alles
       reicht die Zeit niemals, und es ist unklar, was überhaupt drankommt. Die
       Reihenfolge bestimmt die Versammlung, bislang gibt es nur Vorschläge für
       Tagesordnungen, über die online abgestimmt wurde.
       
       Es wurden einige Themenbereiche nach vorne gewählt, bei denen die
       Piratenpartei sich schon vergleichsweise ausführlich in Stellung gebracht
       hat: Transparenz, Bürgerbeteiligung, bedingungsloses Grundeinkommen. Aber
       es zeichnet sich darüber hinaus ab, zu was die Piraten Entscheidungen
       treffen wollen.
       
       Es gibt einen Flügel, der Ausländern und speziell Asylbewerbern mehr Rechte
       geben will. Die Forderung nach einer Abschaffung des Verfassungsschutzes
       könnte sich zu einer Piratenposition entwickeln. Bei der Umweltpolitik
       dominieren klar Bekenntnisse zu einem schnellen Atomausstieg und
       nachhaltiger Energieversorgung.
       
       Zur Wirtschaftspolitik findet sich zum einen ein Mix an Vorschlägen: ein
       einheitlicher Mehrwertsteuersatz von 25 Prozent, ein „Schuldenschnitt als
       Alternative zum ESM“ oder eine „Neue Deutsche Mark parallel zum Euro“. Aber
       auch drei ausführliche Entwürfe für ein Grundsatzprogramm stehen zur
       Diskussion. Eines davon hat die Unternehmensberaterin Laura Dornheim mit
       drei Mitstreitern entwickelt.
       
       Unter den Schlagwörtern „Freiheit, Transparenz, gerechte Teilhabe“ werden
       viele Piratenpositionen aufgegriffen: (betriebliche) Mitbestimmung, Ausbau
       des freien Internets, der Abschied vom Ziel der Vollbeschäftigung.
       
       ## „Hauptsache, kein Neoliberalismus"
       
       Die Forderungen könnten teils aus dem Fundus der FDP stammen, teils aus dem
       der Linkspartei, meist sind sie abwägend: Ja zur staatlichen Regulierung,
       aber keine zu starren Vorgaben. Globalisierung wird als positiv gesehen,
       aber „sie muss dem Gemeinwohl aller Menschen dienen“. Insgesamt eher mehr
       Staat als weniger.
       
       „Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir einen Wirtschaftsantrag
       beschließen“, sagt Dornheim. Sie sieht in jedem Fall
       Kompromissmöglichkeiten: „Ich könnte auch mit den anderen beiden Anträgen
       leben.“ Hauptsache, kein Neoliberalismus. Und es sei wichtig, dass endlich
       etwas beschlossen wird, „auch für die eigene Identitätsfindung“.
       
       Außenpolitisch gehen die Vorschläge hin zu einer ausgesprochen
       europafreundlichen Politik, die mit einer Demokratisierung der
       EU-Institutionen einhergeht. Das Thema Militär wird sehr kritisch gesehen,
       es gibt Anträge für „einen baldmöglichsten Abzug“ der Bundeswehr aus
       Afghanistan oder gleich deren Abschaffung. Die Piraten haben viele Anträge
       zu ihren Lieblingsthemen erarbeitet: Drogen sowie Trennung von Staat und
       Religion.
       
       Bei manchem ist offenkundig, dass es nicht allzu ernst gemeint ist
       („friedliche, nachhaltige und schonende Besiedlung des Mars“). Es gibt
       konkrete Forderungen zu Gesundheit- oder Familienpolitik, andere sind sehr
       speziell: Ein „europäisches Jugend-kennenlern-Programm“ etwa, mit dem die
       EU Schülern die Möglichkeit finanziert, „individual für 4 Monate kostenfrei
       alle Mitgliedsländer der Union zu bereisen“.
       
       ## Der Programmantrag 127
       
       Sebastian Nerz, stellvertretender Bundesvorsitzender der Piraten, gibt sich
       optimistisch, dass der abstimmende Schwarm schon erkennen wird, wenn
       Anträge die Partei nicht wirklich weiterbringen. 50 bis 100 Anträge werden
       sie schaffen, vermutet er. Am Sonntagabend, so seine Hoffnung, ist
       zumindest das Grundsatzprogramm so weit ausgebaut, dass klar ist, für
       welche Vision die Piraten stehen. Dann könne im Nachklapp das Wahlprogramm
       verfeinert werden und Bundestagsabgeordnete hätten Leitlinien für die
       Tagespolitik der Piraten.
       
       Nerz ist im Vorstand für den Bundestagswahlkampf zuständig, es könnte aber
       passieren, dass er seine Aufgabe gar nicht ausfüllen darf: Wenn nämlich der
       Programmantrag 127 angenommen wird. Der Antragsteller befürchtet
       „politische Zwänge“ und die „Korrumpierung durch Macht“. Seine Forderung
       ist kurz und knapp: „Die Piratenpartei und ihre Mitglieder treten 2013
       nicht zur Bundestagswahl an.“
       
       23 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sebastian Erb
       
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