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       # taz.de -- Bildung in Chile: Die Legende vom guten Markt
       
       > Unter Pinochet begann die Privatisierung des chilenischen
       > Bildungssystems. 30 Jahre später ist das Ausmaß des Versagens staatlicher
       > Kontrolle grotesk.
       
   IMG Bild: Die Studierenden in Chile sind seit Jahren unzufrieden
       
       SANTIAGO DE CHILE taz | Wenn Chiles SchülerInnen und StudentInnen im
       zweiten Jahr in Folge für eine bessere und kostenlose staatliche Bildung
       auf die Straße gehen, ziehen sie oft an der Calle de la República im
       Zentrum der Hauptstadt Santiago vorbei. Ausgerechnet in der Straße der
       Republik kann man Chiles schöne private Uni-Welt bestaunen.
       
       Moderne Glas- und Betonfassaden mehrerer großer privater Hochschulen säumen
       die Straße, die Innenhöfe blitzsauber, Wachmänner führen sich auf, als
       begehre man Zutritt zu einem Geheimlabor, möchte man die Gebäude betreten.
       
       Ein paar Kilometer entfernt, an der Calle José Pedro Alessandri, liegt der
       Campus der staatlichen pädagogischen Universität. Eine Ansammlung von
       1970er-Jahre-Bauten. Zwischen zerbrochenen Gehwegplatten sprießt das
       Unkraut, von den Fassaden bröckelt der Putz, die Unterrichtsräume sind
       spartanisch eingerichtet, die Toiletten in einem ramponierten Häuschen auf
       dem Hof untergebracht.
       
       „In Chile ist die staatliche Bildung gezielt zugunsten des privaten Markts
       runtergewirtschaftet worden“, sagt dazu Maria Olivia Mönckeberg, Chiles
       bekannte Investigativ-Journalistin. Begonnen hat es in der Diktatur, die
       von 1973 bis 1990 dauerte. „Aber danach ging es ohne Brüche weiter. Bis das
       Ganze explodieren musste, weil es obszön ist, wie viel einige verdienen und
       wie viel andere bezahlen müssen“, sagt Mönckeberg.
       
       ## Der Boom begann 1981
       
       Der Umbau des chilenischen Bildungssystems beginnt 1981. Da war Augusto
       Pinochet, der sich an die Macht putschte und das Land in ein Labor für die
       Durchsetzung der reinen Lehre des Markts verwandelte, acht Jahre im Amt.
       „Es gab damals acht Unis, man nennt sie die traditionellen“, sagt
       Mönckeberg. Sie zählt auch die private Universität der Katholischen Kirche
       dazu, 1888 eröffnet und bis heute eine der wichtigsten Unis Chiles.
       
       „1981 dann ließ die Diktatur die Gründung privater Hochschulen durch
       jedermann zu, der Boom der Privatunis begann“, sagt Mönckeberg. Heute hat
       das Land mit 18 Millionen Einwohnern und rund 600.000 Hochschulstudenten 60
       Universitäten, 35 davon sind privat.
       
       Für viele Jugendliche, vor allem aus armen Familien, bieten sie oft die
       einzige Möglichkeit, zu studieren. „Die öffentlichen Hochschulen haben
       nicht genügend Plätze, oder die Jugendlichen schaffen die Aufnahmeprüfung
       nicht“, sagt die 20-Jährige Jadira Fontana, Soziologiestudentin, die sich
       der Protestbewegung angeschlossen hat.
       
       Bereits in der Schulzeit werden die Bildungschancen ungleich verteilt. Weil
       die Diktatur auch den öffentlichen Schulsektor schrumpfte, schickt die
       Mittel- und Oberschicht ihre Kinder auf Privatschulen. Für die anderen,
       rund die Hälfte aller Jugendlichen, bleiben die kostenlosen, aber herunter
       gewirtschafteten Stadtteilschulen.
       
       ## Bildung ohne Staat
       
       Später müssen dann alle tief in die Tasche greifen. Drei Fünftel der
       Chilenen verdienen im Schnitt knapp 800 Euro im Monat. Das Studium an einer
       privaten Uni kostet rund 6.000 Euro im Jahr. 4.000 Euro sind es auch an
       einer öffentlichen Hochschule. Denn der Staat hat sein Engagement für
       Bildung radikal zurückgefahren. Im OECD-Land Chile bestreitet er gerade mal
       14,6 Prozent der Gesamtfinanzierung von Bildungseinrichtungen des
       Tertiärbereichs. Fast 80 Prozent zahlen die verschuldeten Familien. Zum
       Vergleich: Im OECD-Durchschnitt belaufen sich die Beiträge der öffentlichen
       Hand auf fast 70 Prozent.
       
       Was der Umbau des Hochschulsystems bedeutet, hat kürzlich zum ersten Mal
       eine parlamentarische Untersuchungskommission aufgearbeitet. Dass die
       Kommission mit Abgeordneten aller Parteien und unter Vorsitz der Opposition
       zustande kam, war auch ein Erfolg der Studentenbewegung.
       
       Auf über 450 Seiten bescheinigen die Parlamentarier den Regierungen der
       vergangenen drei Jahrzehnte, und damit auch dem Mitte-Links-Bündnis
       Concertación, das 20 Jahre lang am Ruder war, Totalversagen. Der freie
       Uni-Markt sei geschaffen worden ohne „Vorgaben für Zulassungskriterien, die
       Höhe der Studiengebühren, die Regulation der angebotenen Ausbildungswege
       oder die Eröffnung von Zweigstellen und das Kredit- und Stipendiensystem“.
       
       Entstanden sei eine „völlig unregulierte Industrie“, mit einem
       Finanzvolumen von umgerechnet rund 4 Milliarden Euro im Jahr 2009, so die
       Parlamentarier. „Trotzdem hat der Staat 30 Jahre lang kein einziges Mal
       private Hochschulen überprüft, um festzustellen, ob in einigen der
       Einrichtungen, die mit Millionenverkäufen Profit erwirtschaftet haben,
       Profitstreben existiert.“
       
       Denn, und das ist fast schon erstaunlich, es war auch Pinochet, der den
       privaten Unis verbot, Gewinne zu erzielen. Doch selbst der zurückgetretene
       Erziehungsminister Felipe Bulnes, der 2011 vor der Protestbewegung
       kapitulierte, bekannte vor der Kommission freimütig: „Das Gesetz existiert
       seit 30 Jahren. Aber niemand kann dafür bürgen, dass es nicht verspottet
       wird.“
       
       ## Illegale Bereicherung
       
       Ein anschauliches Beispiel dafür lieferte im Sommer der Skandal um die
       private Universidad del Mar. Nach nur einem Monaten im Amt ließ deren
       Rektor Raúl Urrutia die Bombe platzen, dass die Hochschule mit rund 20.000
       Studenten ihren Lehrkräften und Angestellten seit Monaten umgerechnet rund
       800.000 Euro an Löhnen und Sozialbeiträgen vorenthalte, ihren Teilhabern
       aber über fingierte Immobiliengeschäfte rund eine Million Euro ausgezahlt
       habe. Die Uni bot zudem teure Medizinstudiengänge an, ohne über Labore zu
       verfügen.
       
       Andere Wege, Geld aus den Unis rauszuschaffen, seien Verträge über fiktive
       Dienstleistungen oder überteuerte Gebäudemieten, stellten die
       Parlamentarier fest. Und übergaben der Staatsanwaltschaft Hinweise, dass
       acht der größten privaten Hochschulen sich illegal bereichern.
       
       Mönckeberg spricht deswegen nur noch von „Unternehmen mit Zweigstellen“.
       Hinter ihnen, so hat sie herausgearbeitet, stehen einflussreiche Gruppen
       aus der politischen oder ökonomischen Elite des Landes. So sitzen
       Exminister von Augusto Pinochet und Familienangehörige von
       Kabinettsmitgliedern der aktuellen rechten Regierungskoalition in den
       Vorständen privater Unis oder ihnen gehören ganze Hochschulen. Bis zum
       Amtsantritt war auch Erziehungsminister Joaquín Lavín, heute Minister für
       soziale Entwicklung, Teilhaber und Gründer einer Privatuni. Gleiches galt
       für Kabinettskollege Cristián Larroulet.
       
       Doch auch internationale Investmentfonds haben den Markt entdeckt. So kauft
       die Laureate-Gruppe, hinter der unter anderem der US-amerikanische
       Investmentfonds Kohlberg Kravis Roberts & Co. steht, in Chile seit 2003
       Unis und Fachhochschulen auf. Heute besitzt Laureate mit der Universität
       Las Américas und Andrés Bello zwei der größten privaten Hochschulen des
       Landes. Insgesamt 60.000 Studierende lassen sich dort ausbilden.
       
       ## Kaderschmieden der Elite
       
       Besonders attraktiv wird das Geschäft für die Privaten durch die
       Möglichkeit einer freiwilligen Zertifizierung. Die zieht zwar keine
       externen Qualitätsvorgaben oder -kontrollen nach sich, eröffnet den Unis
       aber die Möglichkeit, Studenten aufzunehmen, die den staatlich garantierten
       Bildungskredit CAE erhalten. Der CAE war für Unis und Banken jahrelang eine
       Goldgrube ohne Risiko. Denn wenn die Familien die Zinssätze zwischen 6 und
       7 Prozent nicht mehr bezahlen können, springt der Staat ein. Das ist auch
       heute noch so, doch zumindest hat die Regierung von Präsident Sebastián
       Piñera die Zinssätze gesenkt und die Banken aus dem Geschäft gedrängt.
       
       Doch sind alle privaten Unis schwarze Schafe? „Nein. Es gibt welche, die
       betreiben sogar Forschung und legen Wert auf eine gute Ausbildung. Aber es
       sind wenige. Und sie sind dann meistens sehr teure Kaderschmieden für die
       Kinder der Elite“, sagt Mönckeberg. Sie zählt die Uni des Opus Dei oder die
       der Legionäre Christi auf. Aber auch die säkulare Hochschule Adolfo Ibáñez.
       „Die verfolgt eine strikt neoliberale Agenda“, sagt Mönckenberg.
       
       So schnell, da ist sich die Journalistin sicher, werde sich in Chile am
       Geschäft mit der Bildung nichts ändern. „Dahinter stehen zu viele Leute mit
       Einfluss.“ Sie sitzen nicht zuletzt im Parlament, wo die Regierung mit
       ihrer Mehrheit dem Untersuchungsbericht die Zustimmung verweigerte. Aber
       die Proteste gehen weiter. Auch, weil die Hoffnung vieler Chilenen auf
       soziale Mobilität enttäuscht wurde.
       
       Dass die Jugendlichen wertlose Universitätsabschlüsse erhielten, schaffe
       „Gefühle der Frustration, Ohnmacht und Wut“, stellten die Parlamentarier
       fest. Auch Fontana wird weiter auf die Straße gehen. „Mit halbherzigen
       Reformen geben wir uns nicht zufrieden.“
       
       23 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eva Völpel
       
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