# taz.de -- Die Wahrheit: Mysterium gelöst
> Das legendäre Bernsteinzimmer ist nach langer Zeit wieder aufgetaucht –
> die Spur führt ins hessische Melsungen.
IMG Bild: Die Einrichtung war scheiße und wurde bei Nacht und Nebel in die Fulda gekippt.
Seit jeher begleiten kulturhistorische und anderweitig gelagerte Irrtümer
und Rätsel die Menschen auf ihrem Weg durch die Geschichte. Sei es auf
Grund millionenfacher Verblendung – wie in den dreißiger und vierziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts im Rahmen der deutschen Dokusoap Verliebt
in den Führer – oder einfach nur verursacht durch allgemeine
Fehlinformation oder pures Desinteresse.
So glauben beispielsweise bis zum heutigen Tag einige Unbeirrbare, das
Gießener Grab des Physikers Wilhelm Conrad Röntgen sei tatsächlich
durchsichtig und die Wagner-Oper Lohengrin handle von einem Witwer, der mit
seinen drei erwachsenen Söhnen und einem chinesischen Koch auf einer Ranch
in Nevada lebt.
Doch bisweilen werden gerade die kniffligsten Mysterien durch ganz
besonders lapidare Zufälle aufgelöst. Einmal mehr geschehen vor wenigen
Tagen als durch eine profane Wohnungsanzeige das Rätsel um den Verbleib des
legendären Bernsteinzimmers zumindest vorrübergehend gelüftet werden
konnte. Die Älteren werden sich erinnern: Das Bernsteinzimmer wurde um das
Jahr 1700 von Preußens König Friedrich I. bei Bernsteinschnitzern aus
Kopenhagen und Danzig als Arbeitszimmer für sein Schloss Charlottenburg in
Auftrag gegeben.
Der Nachfolger Friedrichs, Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I.,
interessierte sich jedoch nur wenig für unvollendete innenarchitektonische
Kunst und verschenkte den Krempel 1716 an den russischen Zaren Peter I..
In St. Petersburg konnte das in 18 Umzugskisten verpackte Zimmer allerdings
niemals vollständig rekonstruiert werden, und in den Wirren des zweiten
Weltkriegs verschwand das Bernsteinzimmer aus dem Königsberger Schloss, in
dem es seit 1942 ausgestellt war, nachdem es zwei Jahrhunderte im
Katharinenpalast bei St. Petersburg mehr schlecht als recht an diversen
Wänden lehnte. Seitdem fehlte – bis vor kurzem – jede Spur.
Lange hielt sich die Legende, das Bernsteinzimmer sei in Wirklichkeit
lediglich ein nachträglich die preußische Geschichte beschönigen wollendes
Märchen und Friedrich, immerhin ein Mann der sich neben der Kunst auch für
Medizin interessierte, hätte seinerzeit gar kein Bernstein-, sondern
vielmehr ein Harnsteinzimmer in Auftrag gegeben. Eine These, die neuesten
historischen Erkenntnissen allerdings nicht standhält. Die Wahrheit kam
Anfang November ans Licht.
Maria Golz, eine mittellose Erstsemesterstudentin der Volkskunde an der
Uli-Stielike-Universität in Melsungen, blätterte vor einigen Wochen auf
Wohnungssuche die entsprechenden Anzeigen der Melsunger Regionalpresse
durch und stieß auf eine Anzeige, die sie zuerst nicht so recht glauben
wollte. „Das stand“, so Golz, „vermiete Bernsteinzimmer, möbliert. Mit Bad
und TV auf dem Flur. Garten- und Waschmaschinenmitbenutzung.“
Natürlich rief die gebürtige Berlinerin sofort an, und keine drei Tage
später konnte die Studentin ins möblierte Bernsteinzimmer ziehen. „Die
Einrichtung war aber scheiße, und ich habe den ganzen Kram bei Nacht und
Nebel in die Fulda gekippt.“
So tauchte das Bernsteinzimmer zwar fast siebzig Jahre nach seinem
Verschwinden erstmals wieder auf, wurde allerdings aufgrund des
geschichtlichen Desinteresses einer jungen Frau auch umgehend wieder
versenkt. Wenn auch diesmal nicht in den Untiefen der Geschichte, sondern
profanerweise in den provinziellen Fluten des hessischen Flüsschens Fulda.
Über den Vermieter des Bernsteinzimmers konnte Maria Golz allerdings keine
Auskunft geben. Ihre Eltern überweisen den monatlichen Abschlag auf ein
Treuhandkonto. „Das ging auch immer reibungslos, aber bisher habe ich dem
Vermieter auch noch nichts davon gesagt, dass ich diesen ganzen
altmodischen Scheiß weggeschmissen habe.“
Bleibt abzuwarten, wie der geheimnisvolle Vermieter reagieren wird, bei dem
es sich Gerüchten zufolge um das Mainzer Maklerbüro Bernd-Stein-Zimmer
handeln soll, das aber – davon gehen Experten mittlerweile aus – wohl
lediglich eine Art Strohmannfunktion für den medienscheuen Geschichtstycoon
Guido K. übernimmt.
19 Nov 2012
## AUTOREN
DIR Jörg Schneider
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