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       # taz.de -- Langzeitperformance am Klavier: Formenti on Air
       
       > Der italienische Pianist beschenkt das Publikum und zufällige Passanten
       > mit einer konkreten Musik-Utopie. Es kann dabei weltweit per Livestream
       > zugeschaut werden.
       
   IMG Bild: In dem Zero-Yen-Haus spielt Pianist Marino Formenti 12 Stunden am Tag Musik
       
       Er sei zwar Italiener, aber kochen könne er leider nicht, gesteht der
       Pianist und Dirigent Marino Formenti, der vom 28.09. bis zum 20.10.
       zusammen mit einem kleinen Steinway vor dem Haus der Berliner Festspiele
       unter einer Kastanie wohnt und 12 Stunden am Tag Musik spielt. Nur zweimal
       wird sein live oder per livestream einsehbarer Tagesrhythmus unterbrochen
       und Mahlzeiten gecatert, die Formenti dann alsbald lustvoll verschlingt.
       
       „Nowhere“ heißt die Performance im Rahmen des Festivals „Foreign Affairs“,
       zu dem vom japanischen Künstler Kyohei Sakaguchi ein sogenanntes
       Zero-Yen-Haus aus kostenfreien Bauabfällen um den Steinway und den Stamm
       einer Festspielkastanie herumgebaut wurde: ein ansprechend in den
       herbstlichen Lichteinfall platzierter Kubus mit der zen-buddhistischen Aura
       eines japanischen Teehauses und gemäldehaft angeordneten, sich
       überlagernden Fensterrahmen-Rechtecken.
       
       Die Konsumismus-Kritik, die Sakaguchi mit dieser „heidnischen Kapelle“
       (Formenti) impliziert, mag Impuls und Folie für den ausstrahlungsreichen
       Fundstückebau gewesen sein. Nachhaltigkeitsgedanken fehlen jedoch an dem
       unisolierten und nur durch teure Elektroradiatoren beheizbaren Bau. Aber
       weil allein schon die Schönheit dieser Establishment-Version von Occupy
       überzeugt, tut das wenig zur Sache.
       
       Das Publikum kann kommen und gehen, wie es will. Als Formenti am 28.09. mit
       Morton Feldmans Stück „For Bunita Marcus“ um 11 Uhr sein
       musikbetriebkritisches Refugium beginnt, nähert sich das Publikum zunächst
       scheu. Inzwischen bleiben einige Zuhörer stundenlang und lauschen
       eingekuschelt im Liegen Formentis „Musik der Bescheidenheit“, worunter er
       Musik versteht, die sich ohne kontrapunktische Hierarchien in der ihm
       eigenen zärtlich-subversiven Art spielen lässt.
       
       ## Achtsame Atmosphäre
       
       In erster Linie gehört programmatisch die „Musique d’Ameublement“ des
       Franzosen Eric Satie mit zum schwingenden Innendesign von Sakaguchis
       Klavierhaus. Formenti phrasiert ihn inzwischen so natürlich, als sei er die
       Klangentsprechung zur Lichtmalerei des Blätterspiels, die durch die Fenster
       geworfen wird. Daneben werden aus dem 20. Jahrhundert John Cage, Brian Eno
       und Formentis Herzenskomponist Morton Feldman gespielt, außerdem
       Bachpräludien, und Komponisten des so launenhaften wie schlanken
       französischen Barock (Couperin, D’Anglebert, Le Roux).
       
       Die Atmosphäre im Haus ist achtsam. Manche Besucher ziehen ihre Schuhe aus,
       wer länger bleibt, wird Zeuge Dutzender verschiedener Schleichtechniken.
       Die Stille und der Respekt dieser konkreten Utopie wirken wie eine
       platonische Feier des Miteinanders. Dabei steht Formenti weniger in der
       Tradition der buddhistischen Entsagung als im Lustprinzip heidnisch
       verstandener christlicher Askese. Als er noch reden dufte, am Tag vor der
       Performance, kam er in seiner anschaulichen Art unter anderem auf Maria
       Magdalena de Pazzi, eine Märtyrerin des 16. Jahrhunderts, zu sprechen,
       deren Askese zu exzesshaften, eruptiven Visionen geführt hatte und deren
       Schriften Eingang in musikalische Werke von Carlo Gesualdo und Salvatore
       Sciarrino fanden.
       
       Einen Exzess erlaubt sich der Pianist schließlich auch. An zwei Abenden
       schließt er seine Kapelle für jeweils drei Stunden und nimmt an Rodrigo
       Garcías skandalgesäumter und nur in Berlin ohne Proteste spielbarer
       Produktion „Golgota Picnic“ teil – mal lasterhafte Lieder mitgrölend, mal
       als tapsiger Kellner Softdrinks servierend, und schließlich nackt inmitten
       eines Meers aus unzähligen Big-Mac-Buns Haydns „Sieben Worte“ spielend,
       alle neun Sätze: meditativ und pathetisch und mit einem noch sagenhaft
       weicheren Anschlag als im Häuschen unter der Kastanie.
       
       Dann erscheint er schon bald nach dem Schlussapplaus wieder im „Nowhere“,
       wo Teile des Publikums längst eingekuschelt in Decken auf ein paar letzte
       musikalische Impressionen vor der Nachtruhe warten. Unvorstellbar, nach dem
       20. Oktober die tägliche Dosis „Palais de Mari“ (Feldman) oder „Music for
       Piano“ (Cage) entbehren zu müssen.
       
       18 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Astrid Kaminski
       
       ## TAGS
       
   DIR Pianist
   DIR Komponist
   DIR Israel
       
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