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       # taz.de -- Neues Schulkonzept: Eine Note sagt gar nichts
       
       > In Bayern hat ein Gymnasium das Konzept sogenannter „Lernlandschaften“
       > eingeführt. Skepsis und Begeisterung halten sich die Waage.
       
   IMG Bild: Gegen die Bildungspolitik wird häufig protestiert. Das Gymnasium in Oettingen tut lieber etwas dagegen und führt ein neues Schulkonzept ein.
       
       OETTINGEN taz | Freitagmittag, letzte Stunde. An Bayerns Gymnasien chillen
       sämtliche Schülerinnen und Schüler mental hinein ins große Leben: Sommer,
       Sonne, Wochenende! Sämtliche? Nicht die 5 d des Albrecht-Ernst-Gymnasiums
       (AEG) in Oettingen.
       
       Es ist schon zehn vor eins, aber alle sitzen im Kreis, auf kniehohen,
       samtigen Würfeln, auf eiförmigen Gebilden oder einfach auf dem Boden und
       blicken gebannt auf das Plastiktütchen in der Mitte. Lateinlehrerin Claudia
       Langer, Direktorin der Schule, kniet davor und fischt einen Vokabelzettel
       nach dem anderen heraus. „Fide“? – „Res?“ – „Reglare?“
       
       Je fünf Schüler in zwei Reihen eifern darum, wer zuerst die deutsche
       Entsprechung weiß. An einem Wandbord führen zwei Mädchen eine Strichliste.
       Die Tüte saugt die Blicke an, als wäre sie eine Zauberkugel und Professor
       Dumbledore würde gerade Harry Potter den Weg zum nächsten Horkrux lesen.
       Dann der Gong. „Valete Discipuli!“ – „Vale Magistra!“, und fröhlich hüpfen
       und laufen die Discipuli vorbei an der Magistra ins Freie. Niemand schaut
       auf das Wandbord. In der Lernlandschaft am AEG interessiert nicht, wer
       besser ist. Hier kommt es darauf an, gut zu sein.
       
       Es hat sich herumgesprochen, dass in Oettingen so ziemlich alles anders
       läuft als an den übrigen Gymnasien des Freistaats. Aus Bielefeld, aus
       Chemnitz, aus Stuttgart, aus Hof und aus Bamberg sind sie angereist, um ein
       Blick in die Zukunft des gymnasialen Lernens zu erhaschen.
       
       Anfang März waren auch die Bildungspolitiker des Landtags zu Besuch. Renate
       Will (FDP) resümierte: „Man sieht, dass man viel mehr machen kann, als man
       denkt.“ Georg Eisenreich (CSU) erklärte gar, dass es „zu den Kernaufgaben“
       gehöre, „das individuelle Lernen, das sich jedem Kind und seinen
       Eigenheiten einzeln widmet, zu fördern“. Auch der Kultusminister hat einen
       Blick riskiert. Nach Auskunft der Schulleitung des Ernst-Gymnasiums hat
       Ludwig Spaenle „nichts dagegen – solange der Lehrplan eingehalten wird“.
       
       ## Bienenstock des Lernens
       
       Zu Besuch an diesem Freitag ist auch eine Delegation von Eltern, Lehrern
       und Leitern eines Allgäuer Gymnasiums. Wie allen anderen Besuchern hat
       Langer ihnen eingeschärft, dass sie jederzeit kommen können, dass sie nie
       stören. Weil da ja auch kein normaler Unterricht abläuft, mit einem Lehrer
       an einer Tafel und 25 Kindern, die still sitzen und lauschen. Hier lernt
       man in „Lernlandschaften“.
       
       Nun stehen die Besucher also in einer Art Bienenstock des Lernens,
       umschwirrt von eifrigen Schülern, die von Lernangebot zu Lernangebot sausen
       und sich holen, was sie gerade brauchen. Um ein Forum herum sind wabenartig
       vier Klassenzimmer gruppiert. Keine Türen, die Wände bestehen größtenteils
       aus Glas und Regalen, die sich zum Forum hin öffnen.
       
       Sie enthalten sämtliche Lernmaterialien. Die Tische bestehen aus
       dreieckigen Elementen, die lassen sich jederzeit mühelos zu Zweier-,
       Dreier-, Vierer- oder auch Achtertischen zusammenstellen. Tafeln?
       Fehlanzeige. Stattdessen tragen immer wieder Schüler leichte Wandbords in
       der Gegend herum und hängen sie an eine durchgehende Leiste, gerade dahin,
       wo sie sie gerade brauchen.
       
       Worüber die Besucher besonders staunen: Obwohl an diesem Freitag
       gleichzeitig vier fünfte Klassen lernen, drei Latein, eine Mathematik,
       obwohl die Schüler herumsausen, in Grüppchen auf Polstern lümmeln, immer
       wieder auch im Klassenzimmer zusammenfinden, ist es ziemlich ruhig. Kein
       Wunder: Man geht auf Teppich, und die Decke ist durchgehend gedämmt.
       
       Zudem gilt die Regel, an die Frau Langer in ihrem freundlichen, aber stets
       verbindlichen Ton erinnert, als sie gerade wieder einen der Klassenräume
       verlässt: „Ihr wisst, 30 Zentimeter!“ Das heißt: Unterhaltet euch nur so
       laut, dass man euch nur in 30 Zentimeter Entfernung noch hören kann! So
       kann sie ohne schlechtes Gewissen eine Lerngruppe aufzusuchen, der sie die
       Aufgabe übertragen hatte, eine bestimmte Genitivform zu erarbeiten, um sie
       den Mitschülern zu erklären.
       
       ## Nervöse Gäste
       
       Die Allgäuer Delegation ist hin- und hergerissen zwischen Begeisterung und
       Skepsis. Manche der Lehrer bleiben so reserviert, wie es Lehrer nun mal
       sind, die nicht gern alles in Frage gestellt sehen, was sie selbst tun.
       Immer wieder stecken sie die Köpfe zusammen. Einer der Besucher krittelt:
       „Mathe läuft hier auch nicht so anders ab!“
       
       Ein Latein-Lehrer meint: „Die Präsentation war schon ein bisschen zäh!“ Der
       andere Gymnasialkollege sagt: „Hier gibt es eine Phase mehr selbstständig
       Arbeiten und eine Phase weniger Input. Na ja, da müssen halt die
       Rahmenbedingungen stimmen.“ Und das mit den Intensivierungsstunden am
       Nachmittag, in denen jeder mit den anwesenden Lehrern aus unterschiedlichen
       Fächern individuell an seinen eigenen Fragen arbeiten kann, dieses
       „Lernbüro“, das habe er mit den Schülern eines Sportinternats „schon vor 15
       Jahren gemacht“.
       
       Das alles gibt es längst, klar. In der Laborschule Bielefeld, an der
       Helene-Lange-Schule in Wiesbaden. Und dort haben Langer und Schmalisch auch
       hospitiert. Irgendwann nach den ersten Pisa-Veröffentlichungen war der
       Leidensdruck einfach zu groß geworden. Unterrichten, Hausaufgaben geben,
       Abfragen, Proben schreiben, Noten geben – und am Ende alles wie
       weggeblasen. Und immer derselbe Stoff für alle, dieselbe Prüfung zur selben
       Zeit. Obwohl doch „bei 30 Schülern 30 unterschiedliche Gehirne arbeiten“,
       wie Langer sagt.
       
       Schmalisch erklärt den Allgäuern: „Wenn ich in einer Fünften 30 Kinder
       einen Aufsatz schreiben lasse, müsste ich erwarten können, dass sie alle
       gut bis sehr gut abschneiden, sie sind ja mit einem Schnitt von 2,33 oder
       besser ans Gymnasium gewechselt. Ich bekomme aber alle Noten von 1 bis 6.
       Das reicht von ’kriegt kaum einen geraden Satz aufs Blatt‘, bis
       ’hervorragend‘.“
       
       ## Mindmaps und Verzahnung
       
       Seit zwei Jahren schon kommt in Oettingen in Bayern, Landkreis Donau-Ries,
       nicht mehr der Stoff zu den Kindern, vorgetragen von den Lehrern, die
       Kinder kommen zum Stoff, den die Lehrer genauestens vorbereitet haben. Der
       Stoff der verschiedenen Fächer ist in den Wand-Schubkästen farblich nach
       Aufgabentypen sortiert. Auf Wochenplänen halten die Schüler fest, was sie
       können müssen, und was sie noch lernen könnten.
       
       Zu jedem Arbeitsblatt gibt es ein Lösungsblatt, mit dem Schüler vergleichen
       können. Auf Mindmaps ist die Verzahnung des Jahresstoffs aller Fächer
       aufgezeichnet, jederzeit einsehbar für jeden. Da wird in Deutsch nicht
       einfach nur Storms „Schimmelreiter“ gelesen, da wird gleichzeitig in
       Geografie eine Karte von Norddeutschland gebastelt, da fragt man sich in
       Physik, was es bedeutet, wenn der Graf sagt: „Der Deich ist zu steil!“
       
       Und mit geradezu diebischer Freude gibt Schmalisch vor den Allgäuern eine
       Anekdote zum Besten, die den Unsinn von Noten belegen soll: Fragt er doch
       einmal einen Achtklässler seiner Schule, was so ansteht. Sagt der:
       wahrscheinlich ’ne Geschichts-Ex. Ein paar Tage später trifft ihn
       Schmalisch wieder. Und, wie ist’s gelaufen? Der Schüler: „Wir haben gar
       keine Ex geschrieben – umsonst gelernt.“ Schmalisch hebt die Stimme, um
       seiner Fassungslosigkeit Ausdruck zu verleihen: „Umsonst gelernt! Weil es
       keine benotete Prüfung gegeben hat!“
       
       In der Fünften und Sechsten des Albert-Ernst-Gymnasiums, und seit Beginn
       des Schuljahres auch in der Siebten, kommen die Schüler von allein zur
       Lehrkraft und lassen sich eine Prüfung geben, wenn sie meinen, den
       geforderten Stoff zu beherrschen. Wenn es dann nichts wird, dann haben sich
       die Schüler offensichtlich überschätzt und geben nicht dem Lehrer die
       Schuld.
       
       Die Besucher lauschen Schmalisch, der inmitten der diskutierenden,
       lesenden, puzzelnden Kinder postuliert: „Die Note sagt gar nichts!“ Es sei
       wie mit dem Führerschein: Ein Erwachsener meldet sich doch auch erst zur
       Prüfung, wenn er sich fit fühlt hinterm Steuer und nicht, wenn der
       Fahrlehrer es allen befiehlt. Da muss einer der Besucher denn doch
       nachhaken: Wie schneiden die denn in den Jahrgangstests ab? Solche Fragen
       bringen auch Langers Temperament zum Kochen: „Auf das Vergleichen kommt es
       doch überhaupt nicht an! Der Schnitt ist bei uns ganz normal. Wichtig ist
       das Lernen selbst, und das läuft hier ganz anders.“
       
       ## Null Unterrichtsausfall
       
       Auch für die Lehrer. Bisher seien sie es, für die Schule gemacht ist, klagt
       Schmalisch, sie würden den Stoff in- und auswendig beherrschen, wenn sie
       ihn ein paar Jahre lang unterrichtet haben. Doch für die Schüler fängt das
       Problem schon mit dem dauernden Stillsitzen und den ewigen Fächerwechseln
       im nervtötenden Dreiviertelstunden-Rhythmus an.
       
       In den Lernlandschaften am AEG dauern Stunden daher eineinhalb Stunden. Und
       weil die Inhalte miteinander verzahnt sind, müssen sie kollegial
       ausgearbeitet werden. Alles steht dann aber auch jederzeit allen zur
       Verfügung. Und innerhalb von zwei Jahren ist noch nie Unterricht
       ausgefallen. Wenn, wie an diesem Freitag, ein Kollege krank ist,
       unterrichtet Langer, oder wer auch immer da ist, eben drei Klassen
       gleichzeitig. In Lernlandschaften kann so etwas funktionieren.
       
       Gerade hat sich eine von drei fünften Klassen, denen Langer die
       E-Deklination nahebringt, im Forum um sie geschart und gibt die eigenen
       Beobachtungen wieder. Als zwei Jungen aufstehen, um was trinken zu gehen
       und ein anderer ins Klassenzimmer schlendert, beendet Langer die Sitzung
       abrupt und gibt Aufgaben für die Arbeit in kleinen Gruppen. Den Besuchern
       erklärt sie: „Es hat gar keinen Sinn, mit dem Stoff weiterzumachen, wenn
       sie nicht mehr können. Dann muss man halt was anderes machen.“ Hier ist man
       so frei.
       
       16 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Chris Bleher
       
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