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       # taz.de -- Die Wahrheit: Auf der Dunkelreise
       
       > Martin Walsers Tagebuch gefunden! Sylt, Hamburg, Nussdorf, Rom.
       
   IMG Bild: Unentwegt denkt Martin Walser an sein geliebtes Tagebuch, von dem immer noch jede Spur fehlt.
       
       Immer noch sucht Martin Walser nach seinem verlorenen Tagebuch. Der
       85-jährige Schriftsteller hatte es während einer Zugfahrt von Innsbruck
       nach Friedrichshafen auf dem Sitz liegen lassen. Dort wurde es auch
       gefunden und inzwischen der Wahrheit zugespielt, die nun Auszüge aus dem
       Alterswerk des vergesslichen Künstlers veröffentlicht. 
       
       Sylt, September 
       
       Der Wind bläst mit vollen Backen aus, was der Burgunder gestern Abend
       zurückgelassen hat. Bei Raddatz im Sommerhaus gesessen. Obschon der Sommer
       die Insel seit Wochen verlassen hat.
       
       Möwen tanzen in den Herbstwinden ihren Kapriolen-Can-Can. Steigen auf,
       schweben vogelfrei, lassen sich schreiend fallen, um in letzter Sekunde dem
       Wasser Respekt zu zollen.
       
       Die Frauen tragen Tiere am Körper, die sie sich an der Leine nicht zu
       führen trauen. Deswegen müssen sie sie erlegen lassen von mutigen Jägern
       mit dunkler Haut. Während sie ihrem Schoßhündchen den Schoß verweigern.
       Gefrorene Gesichter Düsseldorfer Kaufmannsgattinnen, die zur jährlichen
       Erneuerung ihrer Frostvisagen das Wohlverdiente des Gatten verpulvern.
       
       Die Insel ist die letzte Möglichkeit der Reichen, vor der dänischen Grenze
       ihr obszönes Geld zu zeigen, ohne sich schämen zu müssen.
       
       Kann nicht denken auf diesem von Schminke und Tand verklebten Inselland.
       Das Hirn ist mir zugekleistert mit der Einfalt dieser selbst ernannten
       „Society“, die mit Taitinger ihre Taubheit betäubt.
       
       Sylt 
       
       Musste Wattwanderung abbrechen. Das Knie.
       
       Hamburg, September 
       
       Die Schönste, vielleicht. Kühl und stolz, doch nie hochnäsig. Ein Wind, der
       bald jede Trunkenheit vertreibt. Treffe G. in Blankenese.
       
       Blumen für die Frau von G. gekauft. Blumenmädchen mit sächsischer
       Sprachfarbe, 20 vielleicht, formt den Spätsommer zu duftendem Gebinde.
       Windet die Erinnerungen, bindet das Erleben dieser Monate, deren Ausklang
       in dunklen Farben seinen Ausdruck findet. Der Strauß – ein
       Wechseljahrswesen in den Händen der blühenden Zukunft.
       
       Nussdorf, Ende September 
       
       G. rief an, ob der goldene Füllfederhalter, der bei ihm liegen geblieben
       ist, meiner sei. Hatte den Verlust noch nicht einmal bemerkt.
       
       Oktober, auf dem Weg nach Frankfurt 
       
       Mit dem Zug durch die Nacht. Dunkelreise. Nur die Schiene kennt den Weg.
       Führung, Orientierung abgeben an die Lok, die zieht. Kein Eingriff möglich,
       nur Vertrauen. Blinde Fahrt. Wuddudu, wuddudu, tönt die Eisenbahnmelodie –
       das Ohr übernimmt, wo das Auge schweigt.
       
       Oktober, Frankfurt, Ende der Messe 
       
       Essen mir zu Ehren. Burkhard Klaußner liest aus Othello. Monika Maron ist
       jedes Maß los, ergibt sich später in den Papierkorb. U. spricht von der
       Entäußerung des Künstlers im Prekariat der Echtzeit und hat seine junge
       Freundin mitgebracht, die frei für die FAS schreibt. Fliegende Blicke über
       den Tisch. Ein geschenktes Lächeln. Ein Blick auf das Herz als man in den
       Mantel steigt. Sie will mich anrufen. Will ein Interview führen.
       
       Das Wild vom Gastgeber selbst geschossen, doch leider zu viel Kraut auf dem
       Teller. Der Magen rächt sich mit Schüben voll saurem Saft.
       
       Oktober, zu Hause 
       
       Habe S. angeboten, das Interview hier, bei mir am See zu machen. Sie sagt,
       sie könne augenblicklich nicht aus Frankfurt weg. Später vielleicht.
       
       Oktober, Rom 
       
       Die Siebenhügelige empfängt mich in güldenem Schein. Auch jetzt angenehmste
       Temperaturen. Die Piazza vollbesetzt, die jungen Adonisi zeigen sich selbst
       und den Mädchen ihre römischen Körper und singen in ihre Mobiltelefone, die
       sie wie Herzschrittmacher an der Brust tragen. Ihre Motorroller untermalen
       den Gesang mit sattem Geknatter. Italienische Impressionen.
       
       Auf einen Campari mit Vito Spionelli, später dann die Villa Massimo.
       
       Rom, Hotel Hassler 
       
       Frühstücksblick über die Dächer der Ewigen wie auf eine Siedlung aus
       Streichholzschachteln. Dicht an Dicht die Pappdächer, von der Sonne
       gebleicht wie Wäsche, die zu lang zum Trocknen ausgelegen hat. Die Sonne
       kitzelt sich an den Türmen und Kuppeln empor, bevor sie zur vollen Blüte
       aufsteigt. Zum Frühstück dann Nachrichten aus Frankfurt. Dort Regen.
       
       Rom, Flughafen Fiumicino 
       
       Für Käthe eine Tasche gekauft. Und auf dem pulsierenden Markt getrocknete
       Tomaten erstanden. Paradeiser, aus dem Sonnengarten Ceres. So mannigfaltig
       in Farbe und Form. Von hellstem Orangeleuchten über Feuerschein bis zum
       braunen Rot geronnenen Blutes. Eine Farbgala, ein Leuchtspektakel, ein
       Fruchtglossarium. Daneben die Händlerin mit alten, knochigen Fingern. Eine
       Lebensarbeit, lesbar in den Fugen ihrer Hand.
       
       Oktober, Überlingen, Bahnhof 
       
       Signaldefekt, der Zug lässt noch auf sich warten. In Afrika werden
       Elefanten geschossen. Aus Gier. Jungtiere, von einer Minute auf die andere
       ohne Mutter. Ohne Orientierung oder Zukunft. Ihr Rüssel tastet über den
       noch warmen Mutterleib, der für immer ohne Regung bleibt.
       Kriegskinderschicksal.
       
       Oktober, Nussdorf 
       
       S. will nächste Woche kommen. Lasse ihr zur Vorbereitung meine letzten 20
       Bücher schicken. Möchte, dass sie um die Bandbreite meines Schaffens weiß.
       
       14 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Silke Burmester
       
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