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       # taz.de -- Arabische Stadtviertel in Israel: Die offene Wunde von Haifa
       
       > Die israelisch-jüdische Historikerin Yfaat Weiss berichtet über die
       > Geschichte eines arabischen Viertels in Israel. Leben zwischen
       > Wellblechsiedlung und Universität.
       
   IMG Bild: Schiffe liegen im heutigen Hafen von Haifa.
       
       Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt Haifa als Metropole der Zukunft. Bis
       heute genießt die Hafenstadt den Ruf, das Musterbeispiel einer urbanen,
       „gemischten Stadt“ zu sein. Yfaat Weiss bricht nun mit diesem Bild.
       
       In ihrem neuen Buch „Verdrängte Nachbarn“ widmet sich die Historikerin der
       Hebräischen Universität in Jerusalem der Geschichte des arabischen
       Stadtviertels Wadi Salib. Das Buch stellte sie am vergangenen Donnerstag im
       Jüdischen Museum in Berlin vor. Yfaat Weiss selbst ist in Haifa geboren –
       genau wie ihr Gesprächspartner, der Journalist Joseph Croitoru.
       
       Heute ist Wadi Salib eine Ruinenlandschaft und vor allem bekannt für den
       ersten jüdischen Aufstand in Israel: 1959 kam es im Viertel zu
       gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen jüdisch-marokkanischen
       Einwanderern und den Behörden. Das Viertel wurde geräumt.
       
       „In der israelischen Geschichtsschreibung kommt dem ein ikonografischer
       Status zu“, betont Weiss. Unter dieser bekannten Geschichte aber verbirgt
       sich eine eher unbekannte. Bis 1948 nämlich war Wadi Salib ein intaktes
       arabisches Wohnviertel. Die jüdische Einwanderung schuf in Haifa eine
       eigene Infrastruktur.
       
       ## „Habenden und Nicht-Habenden“
       
       Die 1924 erbaute Universität, das Technion, kontrastierte die arabischen
       Wellblechsiedlungen. „Es entstand eine Dichotomie zwischen vernachlässigten
       arabischen und entwickelten jüdischen Vierteln“, sagt Yfaat Weiss. Die
       Spannungen – nach Weiss vor allem solche zwischen „Habenden und
       Nicht-Habenden“ – nahmen zu.
       
       Am 21. April 1948 dann begann die Hagana mit der Eroberung Wadi Salibs,
       kaum 24 Stunden später kollabierte das arabische Haifa. Die arabische Seite
       entschied sich, die Einwohner zu evakuieren. Von etwa 70.000 Arabern
       blieben kaum mehr als 4.000.
       
       Viele jüdische Politiker sahen den Exodus als moralische Katastrophe,
       Erinnerungen zeugen vom Erschrecken: So besuchte die spätere
       Ministerpräsidentin Israels, Golda Meir, die Hals über Kopf verlassenen
       Häuser und brach, ob der Erinnerungen an die Schoah, in Tränen aus. „Die
       Erschütterung der jüdischen Seite verflüchtigte sich jedoch schnell“,
       konstatiert Weiss.
       
       Die verlassenen Häuser Wadi Salibs wurden 1950 zu „absentee’s property“
       erklärt, zu Eigentum, das niemandem gehört. Zuerst zogen Schoah-Überlebende
       in die armseligen Behausungen. Ihnen folgten verarmte jüdische Flüchtlinge
       aus Nordafrika.
       
       ## Arme Viertel
       
       „Die jüdischen Armenviertel entstanden in den arabischen Vierteln neu“,
       sagt Weiss. Und wieder eskalierte die Lage, diesmal als innerjüdischer
       Konflikt. Erstmals wurde der junge Staat auf die explosiven sozialen
       Spannungen hingewiesen und diese wurden Teil der Nationalerzählung.
       
       Weiss folgt einer Pendelbewegung entlang der Trennlinien, die über die
       Jahrzehnte Schichten wie Ethnien in Haifa spalteten. Genau dies kritisiert
       Joseph Croitoru. Ohne die Chronologie einzuhalten, entspräche Weiss der
       israelischen Meistererzählung und mache die innerjüdischen Unruhen zum
       Drehpunkt der Geschichte, statt mit der Vertreibung der Araber zu beginnen:
       „Am Ende entsteht der Eindruck, dass dies für Sie als Historikerin ein
       Vorgang war, der eher am Rande liegt.“
       
       Croitoru verweist auf die andauernden Versuche des israelischen
       Establishments – von der Regierung Netanjahu bis zur Wissenschaft, die sich
       gegen Methoden der Stadtarchäologie sperrte – die palästinensischen
       Erfahrungen „ad acta“ zu legen.
       
       Weiss jedoch hofft, mit ihrem narrativen Stil die Israelis dort abholen zu
       können, wo sie sich befinden – „1959 ist im Bewusstsein, als wäre es
       gestern gewesen“ – und sie zurückzuführen, wohin sie nicht möchten: „nach
       1948“. Seit mehreren Jahren schon versucht eine neue Generation
       jüdisch-israelischer Historiker wie Weiss mit einem mikrologischen Ansatz
       die als „intern“ (innerjüdisch) und „extern“ (arabisch-jüdisch)
       auseinanderdividierten Konflikte wieder ineinander zu verschränken und
       verdrängte Schichten freizulegen.
       
       ## Ausschluss der arabischen Bevölkerung
       
       „Wir sind müde, ideologisch an die Geschichte heranzugehen“, sagt Weiss.
       „So wurde sie oft genug erzählt.“ Trotzdem wird die Historikerin am Ende
       des Vortrags noch einmal deutlich. Bereits der Bau des Technions, Symbol
       für ein modernes und offenes Israel, habe den Ausschluss der arabischen
       Bevölkerung besiegelt: „Es brauchte 1948 nicht lange gekämpft werden, da
       die Verhältnisse klar waren.“
       
       Vor dem Hintergrund dieser schmerzhaften und eng verzahnten Geschichte
       erscheinen die Ruinen von Haifa beinahe tröstlich. Anders als die
       verlassenen arabischen Viertel in Tel Aviv, die durch Gentrifizierung
       längst homogenisiert wurden, klafft in Haifa eine Wunde. Gut sichtbar
       verweist sie auf den Traum vom multiethnischen Staat.
       
       12 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sonja Vogel
       
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