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       # taz.de -- Koalitionsgipfel verteilt Wahlgeschenke: Für jeden etwas
       
       > Auf dem Koalitionsgipfel von CDU, CSU und FDP sind sich die Parteien
       > einig: Jede Partei darf den Wählern Wohltaten zukommen lassen. Ein
       > Faktencheck.
       
   IMG Bild: Politisches Geschenk gefällig?
       
       BERLIN taz | Wahlgeschenke für Alte, Kranke, Eltern und Autofahrer. Sie
       sind die Gewinner, aber auch die Verlierer der neuen Regelungen.
       
       ## Praxisgebühr: Abschied nach acht Jahren
       
       Worum geht es? Die Praxisgebühr für Haus-, Fach- und Zahnärzte soll zum 1.
       Januar 2013 abgeschafft werden. Dadurch verlieren die gesetzlichen
       Krankenkassen jährlich Einnahmen von rund 2,1 Milliarden Euro, die bisher
       von den Ärzten für die Kassen eingezogen wurden. Die Zuzahlung von 10 Euro
       für einen Krankenhausaufenthalt ist nicht von der Befreiung betroffen, sie
       bleibt bestehen.
       
       Wer profitiert davon? Einerseits die Ärzte, die künftig geringere
       Verwaltungskosten haben werden, vor allem aber die Versicherten: Sie
       mussten bislang, zusätzlich zu ihrem Krankenversicherungsbeitrag, pauschal
       10 Euro pro Quartal bezahlen, wenn sie zum Arzt gehen wollten. Anschließend
       konnten sie sich von dem Arzt, bei dem sie die Gebühr entrichtet hatten,
       bei Bedarf kostenlos zu anderen Medizinern überweisen lassen. Versicherte,
       deren jährliche Selbstbeteiligung 2 Prozent ihres Bruttoeinkommens
       überschritt, waren von der Praxisgebühr befreit. Für chronisch Kranke lag
       die Obergrenze bei einem Prozent. Das Rückerstattungsverfahren allerdings
       war extrem bürokratisch.
       
       Was kostet es? 2,1 Milliarden Euro jährlich zulasten der gesetzlichen
       Kassen. Es steht zu erwarten, dass die Kassen künftige
       Leistungseinschränkungen oder Zusatzbeiträge mit dem Wegfall der
       Praxisgebühr begründen werden.
       
       Was sagt die Opposition? Die Praxisgebühr war 2004 von der damaligen
       rot-grünen Bundesregierung eingeführt worden. Ihr Ziel, die
       Eigenverantwortung zu stärken und damit medizinische Versorgung sinnvoll zu
       steuern, aber hat sie verfehlt. Zuletzt hatte dies ein Evaluationsbericht
       der Krankenkassen nachgewiesen. Demnach war die Zahl der Arztbesuche wegen
       der Praxisgebühr keineswegs zurückgegangen. SPD, Grüne und Linke hatten
       zuletzt selbst die Abschaffung gefordert. Entsprechend unscharf fiel die
       Kritik aus: Die Rede war vom „verantwortungslosen Deal“, wahlweise vom
       „Riesen-Kuhhandel“. HEIKE HAARHOFF 
       
       ## Rente: Mehr Geld für Lebensleistung
       
       Worum geht es? Die Regierung will ab Mitte 2013 eine steuerfinanzierte
       „Lebensleistungsrente“ einführen. Damit sollen – unter gewissen Bedingungen
       – die Rentenbeiträge von Niedrigverdienern so aufgewertet werden, dass
       diese im Ruhestand nicht auf die Sozialleistung Grundsicherung im Alter
       angewiesen sind. Wie die Rentenbeiträge im Detail aufgewertet werden, ist
       noch unklar. Klar ist aber: Es wird eine Einkommensprüfung geben – sowohl
       beim möglichen Rentenbezieher als auch beim Partner. So soll ausgeschlossen
       werden, dass die viel bemühte Zahnarztgattin, die Teilzeit gearbeitet hat
       und über ihren Mann abgesichert ist, eine Lebensleistungsrente erhält.
       
       Wer profitiert davon? Niedrigverdiener, die 40 Beitragsjahre in der
       gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) vorweisen können und privat für das
       Alter vorgesorgt haben. Unklar ist dabei noch, wie lange und häufig man
       privat vorgesorgt haben muss. Die Lebensleistungsrente soll dann an 850
       Euro brutto heranreichen, sagt das Bundesarbeitsministerium (BMAS). Denn
       laut BMAS müsse die Rente höher liegen als der höchste ermittelte
       Grundsicherungsbedarf in Deutschland. Der beträgt etwa in Wiesbaden, von
       den Wohnkosten her eine der teuersten Städte, derzeit 811 Euro im Monat.
       Und steigt bis 2013 auf 829 Euro, weil der Regelsatz der Grundsicherung
       erhöht wird.
       
       Beide Zugangsvoraussetzungen – 40 Beitragsjahre und private Vorsorge –
       schränken den Empfängerkreis der Rente allerdings ein. So gingen 2011
       beispielsweise Frauen im Westen im Schnitt mit 27,5 Beitragsjahren in
       Rente. Frauen aus dem Osten kamen hingegen auf fast 40 Jahre. Zu
       Beitragsjahren zählen neben Zeiten sozialversicherungspflichtiger
       Beschäftigung auch Zeiten der Pflege von Angehörigen, der Kindererziehung
       (maximal drei Jahre) oder des Bezugs von Arbeitslosengeld I. Allerdings
       will die Koalition prüfen, ob für Kindererziehung oder Pflegeleistung mehr
       Beitragszeiten angerechnet werden können.
       
       Die Erfordernis, eine private Altersvorsorge zu besitzen, ist die zweite
       Hürde: Bisher sorgt nur rund ein Drittel aller Niedrigverdiener
       (monatliches Nettoeinkommen unter 889 Euro) privat für das Alter vor, sagt
       eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
       Allerdings: Wer vorgesorgt hat und eine Lebensleistungsrente erhält, kann
       die Erträge der privaten Vorsorge natürlich behalten. Auf die
       Grundsicherung werden hingegen alle Erträge weiterhin angerechnet.
       
       Was kostet das? Schätzungen besagen: rund 3 Milliarden Euro im Jahr 2030.
       
       Was sagt die Opposition? SPD-Chef Sigmar Gabriel kritisierte die
       Zugangsvoraussetzungen zur Lebensleistungsrente als „unüberwindbare Hürde“.
       Ähnliche Kritik kommt aus den anderen Oppositionsparteien, den
       Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften. EVA VÖLPEL 
       
       ## Verkehr: Geld für viele Spatenstiche
       
       Worum geht es? Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) bekommt im nächsten
       Jahr 750 Millionen Euro zusätzlich, um „nötige und wachstumsfördernde
       Investitionen“ in wichtige Verkehrsprojekte umsetzen zu können, wie die
       Koalition mitteilte. Vorrangig sollen mit dem Geld nicht Sanierungen,
       sondern Neubauprojekte finanziert werden. Gefordert hatte der Minister im
       Vorfeld einen Zuschlag von einer Milliarde Euro.
       
       Wer profitiert davon? Zum einen profitieren die deutsche Bauwirtschaft und
       die Autofahrer. Für welche Projekte das Geld im Einzelnen genutzt wird,
       soll erst in einigen Tagen mitgeteilt werden. Es fließe aber
       voraussichtlich vor allem in den Bau von Straßen und Wasserstraßen, sagte
       eine Sprecherin des Verkehrsministeriums. Ebenfalls profitieren werden wohl
       jene PolitikerInnen, die im Wahljahr neue Großprojekte in ihren Wahlkreisen
       feiern dürfen.
       
       Was kostet es? 750 Millionen Euro – sofern das ganze Geld auch abgerufen
       wird. Von der zusätzlichen Milliarde, die Ramsauer für dieses Jahr bekommen
       hatte, sind nur 450 Millionen ausgegeben worden.
       
       Was sagt die Opposition? Dass der Verkehrsbereich strukturell
       unterfinanziert ist, finden auch SPD, Linke und Grüne. Den Beschluss des
       Koalitionsgipfels sehen sie dennoch kritisch. „Wir fürchten, dass bei der
       Verwendung der Mittel nicht die verkehrspolitische Notwendigkeit
       entscheidend sein wird, sondern dass wieder vor allem Projekte aus
       Wahlkreisen von Ministern gefördert werden“, sagt Grünen-Verkehrspolitiker
       Anton Hofreiter der taz.
       
       Auch SPD-Fraktionsvize Ulrich Kelber erwartet lediglich „viele
       medienwirksame Spatenstiche“.
       
       Linken-Verkehrsexpertin Sabine Leidig bemängelt die voraussichtliche
       Verwendung der Mittel: „Wenn davon fast nichts in die Schiene fließt, ist
       eine Erhöhung des Etats unsinnnig.“ MALTE KREUTZFELDT 
       
       ## Betreuungsgeld: wird ab August 2013 gezahlt
       
       Worum geht es? Familien mit ein- oder zweijährigen Kindern erhalten ab
       August 2013 zunächst 100 Euro pro Monat, ab August 2014 dann 150 Euro, wenn
       sie ihr Kind nicht in einer öffentlichen Kita betreuen lassen.
       
       Subventioniert werden damit nicht nur daheim bleibende Eltern, sondern auch
       private Kitas, private Tagesmütter und -väter oder Kinderfrauen. Es ist
       auch möglich, das Geld in eine private Altersvorsorge der Eltern zu stecken
       oder aber einen privaten Sparvertrag für die spätere Ausbildung des Kindes
       abzuschließen. In den letzten beiden Fällen legt der Staat noch einmal
       einen Bonus von 15 Euro pro Monat drauf. Ab dem dritten Geburtstag des
       Kindes hört die Zahlung wieder auf. Das Betreuungsgeld soll noch diese
       Woche im Bundestag beschlossen werden.
       
       Wer profitiert davon? Eine schwierige Frage. Zunächst profitieren die 87
       Prozent der Eltern, die laut einer Umfrage ihr Einjähriges daheim betreut
       sehen wollen. Auch profitieren Kinder, die nicht in eine schlecht
       ausgestattete Krippe mit zu wenig Personal gehen müssen, weil der
       Krippenausbau unterfinanziert ist.
       
       Dann könnten private Betreuungseinrichtungen profitieren - und damit
       eventuell auch Kinder, die eine extraschöne private Kita besuchen können.
       Die kostet allerdings eine Vielfaches des Betreuungsgeldes. Deshalb werden
       eher reiche Familien subventioniert, die sich die private Betreuung leisten
       können.
       
       Einen Altersvorsorgevertrag oder einen Bildungssparvertag wird auch nur
       abschließen, wer diesen nach zwei Jahren selbst weiterfinanzieren kann.
       Ärmere Eltern und MigrantInnen, das zeigen die bisherigen Erfahrungen mit
       dem Betreuungsgeld in anderen Ländern, bleiben eher selbst zu Hause. Sie
       sparen dann die Kitagebühren und bekommen das Betreuungsgeld noch
       obendrauf. Doch die Forschung sagt, dass viele dieser Kinder besonders vom
       Besuch einer Kita profitieren würden - sie verlieren also mit dem
       Betreuungsgeld eher.
       
       Mütter, die für ihre Kinder jeweils zwei Jahre aus dem Beruf aussteigen,
       erleiden ihr Leben lang Einkommensverluste. Sie profitieren also nur
       kurzfristig vom Betreuungsgeld. Auf lange Sicht verlieren sie. Wer auf
       jeden Fall profitiert: private Krippen, private Vorsorgeanbieter.
       
       3. Was kostet das? Ab 2014 rechnet die Regierung mit 1,2 Milliarden Euro
       pro Jahr. Forscher gehen eher von 2,2 Milliarden aus. Zum Vergleich:
       Öffentliche Kitas bekommen 770 Millionen Euro pro Jahr.
       
       4. Was sagt die Opposition? SPD-Chef Sigmar Gabriel spricht von einer
       „Katastrophe“. SPD und Grüne kündigten an, Klagen gegen das beschlossene
       Betreuungsgeld vor dem Bundesverfassungsgericht zu prüfen. Entsprechende
       Gutachten haben sie bereits erstellen lassen. Doch bisher hat Karlsruhe dem
       Staat in der Gestaltung seiner Familienpolitik viel Spielraum zugestanden,
       die Aussicht auf Erfolg ist gering. Der Leistung könnte dennoch nur ein
       kurzes Leben beschert sein: Die SPD will das Betreuungsgeld nach einem
       eventuellen Sieg bei der Bundestagswahl 2013 wieder abschaffen, denn das
       Geld werde gebraucht für Ganztagsschulen und Kitaplätze. HEIDE OESTREICH
       
       5 Nov 2012
       
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