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       # taz.de -- Hercules & Love Affair: „Ich war zu Tränen gerührt“
       
       > Andy Butler von Hercules & Love Affair über den Zusammenhang von House
       > und Punk, seine Haltung zu Obama und die USA vor der Wahl.
       
   IMG Bild: Produzent Andy Butler: „Manchmal tut´s ein Arschtritt.“
       
       taz: Herr Butler, im Jahr 2009 sah ich Ihr Konzert mit Hercules & Love
       Affair im Berliner Lido. Ein toller Abend, alle waren am Tanzen, ich auch.
       Nur tätschelte mir irgendwann ein Fremder ständig den Hintern. Nach zwei-,
       dreimal empfand ich es als lästig. Ich bin Hetero und würde fremden Frauen
       nie an den Arsch fassen. Als ich vom Bierholen zurückkam, trat ich ihm
       daher höflich, aber bestimmt in den Hintern. Wie hätten Sie reagiert? 
       
       Andy Butler: In meiner Lebenszeit haben mir schon unzählige fremde Männer
       an den Hintern gefasst. Und die Palette meiner Reaktionen war – je nach
       Zustand – völlig unterschiedlich. Manchmal tätschelte ich herzlich zurück,
       ein andermal reagierte ich mit einem strengen Blick. Böser wird’s bei mir
       wahrscheinlich nicht. Und klar, es gibt Momente, in denen möchte man
       einfach nicht am Arsch angefasst werden, und es fühlt sich unangenehm an,
       wenn es jemand trotzdem tut. Ein höflicher Tritt in den Po ist doch die
       richtige Antwort.
       
       Durch Punk habe ich gelernt, mich zu wehren. 
       
       Das klingt definitiv nach einem Hercules-&-Love-Affair-Konzert und nicht
       nach dem Moshpit bei Agnostic Front.
       
       Skinheads wie die von Agnostic Front konnte ich noch nie leiden. Ich mochte
       eher die Beastie Boys, als sie noch Hardcore im Programm hatten. 
       
       Ja, ihr frühes Material ist großartig. Wissen Sie, just gestern Abend habe
       ich über meine Punkwurzeln nachgedacht. Ich finde es meistens öde, wenn
       mich Journalisten nach meinen Einflüssen befragen, weil sie davon ausgehen,
       dass ich ein Dancefloor-Hardliner bin. Sobald die Runde macht, dass ich
       große Stücke auf die Ramones halte oder dass mich Proto-Metal aus den
       Siebzigern stark beeinflusst hat, ist die Verwunderung groß.
       
       Als mich zum ersten Mal die Botschaft von House erreicht hat, war das nach
       einem Konzert der US-Posthardcore-Band Nation of Ulysses im München der
       frühen Neunziger. Nach dem Konzert wurden im Backstageraum die Möbel
       beiseitegeräumt und der Detroiter DJ Blake Baxter legte Deephouse auf.
       Unvergesslich. 
       
       Das Tolle ist ja, dass es zahlreiche House-DJs gibt, die sowohl mit
       Undergroundrock als auch mit Dancefloor sozialisiert wurden. Als
       Musikliebhaber ist man wahrscheinlich automatisch an allem Möglichen
       interessiert. Mein Bruder ist auch so ein Fall, er schätzt Indierock und
       House gleichermaßen.
       
       Als ich Ihre Auswahl für das „DJ-Kicks“-Album sah, war ich erstaunt, wie
       Sie Neunziger-Jahre-Deephouse aus New York und Chicago, etwa Jump Chico
       Slamm, mit aktuellem Sound mischen und wie zeitgemäß die Musik klingt. Was
       macht Ihre Klangästhetik so modern? 
       
       House wurzelte in Chicago, und es weist viele gemeinsame Klangelemente mit
       Industrial Music auf. Ich mochte Industrial-EBM, bevor ich House für mich
       entdeckte: die Platten von Wax Trax Records. Und ich erinnere mich, dass
       ich als Teenager ein Interview mit Al Jourgensen von Ministry gelesen habe,
       in dem er sich darüber beklagt, dass er durch sein Viertel in Chicago läuft
       und House-Tracks hört, die von seiner Musik geklaut hätten.
       
       Es gibt zwischen House und Industrial einen direkten ästhetischen
       Zusammenhang. Sehen Sie, „Feel Free“ von Jump Chico Slamm ist ähnlich
       schroff wie Industrial. Die Samples klingen nach der Cut-up-Methode. Die
       Musik fühlt sich an wie maschinelle Arbeit in einer Fabrik. Mechanisch sind
       die einzelnen Klangelemente meisterhaft zusammengesetzt.
       
       Was man in Deutschland nicht so mitbekommen hat, House wie „Feel Free“ von
       Jump Chico Slamm war eine moderne Form von Soulmusik. Ganz besonders in
       Chicago. Es war Musik für Jung und Alt, für gays und für straights. 
       
       Ich würde dekonstruierte Soulmusik dazu sagen. Ganz besonders, was „Feel
       Free“ angeht. Dieses mantraartig wiederholte „Feel Free“ traf mich immer an
       einer empfindlichen Stelle. Als ich zuerst im Club dazu abtanzte und als
       ich die Platte zum ersten Mal aufgelegt habe, fand ich sie immer noch
       bewegend. Und ich habe ihre Botschaft verinnerlicht.
       
       Durch „Feel Free“ habe ich kapiert, dass ich der sein kann, der ich sein
       möchte. Und das ist im Grunde genommen die Botschaft des House. Darüber
       hinaus ist „Feel Free“ schlaue Dancefloor-Musik. Wenn man genau hinhört,
       entdeckt man großartige Conga-Percussion-Loops und Elemente aus dem Jazz,
       die jedoch zu einer Art tribalistischem Sound transferiert wurden.
       
       Der New Yorker Produzent Victor Simonelli taucht gleich mit drei Tracks in
       Ihrem DJ-Mix auf. Ich habe ihn in den neunziger Jahren interviewt. Damals
       war Dancefloor nicht an Vergangenheit interessiert. Aber Simonelli machte
       mich darauf aufmerksam, dass man seine Musik besser verstehen könnte, würde
       man die elektronische Tanzmusik der achtziger Jahre, etwa die von Boyd
       Jarvis, kennen. 
       
       Was ich besonders an Victor Simonelli schätze, der ja eine Generation älter
       ist als ich, ist sein Erinnerungsvermögen. Er weiß, wie man Gesang auf
       einem Housetrack inszenieren muss, damit er sophisticated klingt. Und
       Simonellis Musik hat ihre Wurzeln im Discosound. Große Stimmen,
       Streicher-Arrangements, herzbrecherische Breaks und melancholische
       Einschübe – das entspricht seiner Handschrift, und das ist immer noch die
       Blaupause für Vocalhouse. Sein Bass ist subsonisch, fantastisch tief, das
       klingt frisch.
       
       Darüber hinaus sprechen mich seine Tracks natürlich auf einer persönlichen
       Ebene an. Als junger Mensch wurde ich mehr und mehr in die Houseästhetik
       reingezogen. Und Simonellis Disco-Referenzen ziehen einen bewusst in die
       Vergangenheit. Ich habe zu allen seinen Tracks ausgiebig getanzt. In der
       zweiten Hälfte der Neunziger geriet House in die Falle der Loungemusik. Der
       Jazzeinfluss nahm überhand, plötzlich stülpten sich alle Kopfhörer über und
       vergaßen, dass diese Musik in aller erster Linie Tanzmusik war und nichts
       sonst.
       
       Wir haben über die Vergangenheit und die Gegenwart von House gesprochen.
       Nun würde ich gern wissen, welche Meinung Sie zur Zukunft Ihres
       Heimatlandes haben. Wie beurteilen Sie als Schwuler die erste Amtszeit von
       Präsident Barack Obama? 
       
       Ich war zu Tränen gerührt, als ich eine Rede von ihm im TV gesehen habe, in
       der es um die Rechte von Schwulen in der US Army ging. Dann aber wusste ich
       nicht genau, wie seine wahren Absichten zu verstehen sind. Meint er es mit
       uns ernst? Vielleicht ist er unsicher, was den Umgang mit Schwulen
       betrifft.
       
       Wie ist die Stimmung im Land? 
       
       Kürzlich las ich einen Artikel, in dem eine Statistik vorkam, die besagt,
       dass sich sieben Prozent aller Amerikaner zur ihrer Homosexualität
       bekennen. Wirklich, nur sieben Prozent? Vielleicht hat sich ja doch nicht
       so viel geändert, wenn es um die Bigotterie geht.
       
       Werden Sie Obama für weitere vier Jahre unterstützen? 
       
       Ich werde für Obama stimmen, trotz aller Zweifel. Und ich denke, wir
       Amerikaner wären sehr dumm, wenn wir ihn am Dienstag nicht erneut wählen
       würden. Aber vielleicht braucht er für die zweite Amtszeit einen
       Arschtritt.
       
       ## Hercules &Love Affair „DJ-Kicks“ erschienen bei !K7/Alive
       
       5 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
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       ## TAGS
       
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