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       # taz.de -- Kolumne Das Tuch: Mein Leben in der Fremde
       
       > Es gibt Worte, die lassen sich kaum in eine andere Sprache übersetzen –
       > deswegen bleiben manche Gefühle unausgesprochen.
       
       Es war der Festtagsmorgen, an Bayram. Wir saßen in Oxford am
       Frühstückstisch, als im Radio eine Sendung über das Bayramfest in
       Deutschland lief. Der Moderator erzählte von Vätern, die sich auf den Weg
       in die Moschee machen, von der Aufregung, die zuhause herrscht, die letzten
       Vorbereitungen für das große Frühstück und die Kinder, die erwartungsvoll
       um die Geschenke herumtanzen. Ich sah zum ersten Mal die Leere. Die
       fehlenden Menschen. Meine liebevollen Eltern und Geschwister, meine
       sentimentalen Großeltern, Tanten und Onkels, Cousinen und Cousins.
       
       Doch eigentlich waren nicht sie abwesend, sondern ich. Ich bin fort, ich
       lebe im gurbet. Was das ist? Würde ich es als „das Leben in der Fremde“
       übersetzen, würde es niemals ausreichen, um meinem Gegenüber das Gefühl zu
       beschreiben, das dieses Wort erzeugt.
       
       Als ich mich an meinen Schreibtisch setzte und versuchte meine Gefühle in
       Worte zu fassen, tanzten meine Finger auf der Tastatur. Ich schrieb
       fließend, ganz natürlich. Erst viel später bemerkte ich, dass ich auf
       Türkisch geschrieben hatte.
       
       Gurbet. Ganz alleine, ohne jeglichen Zusatz kann dieses Wort den Menschen,
       der gurbet kennt, Erinnerungen hervorrufen lassen, Sehnsucht und Schmerz
       fühlen lassen, die Wangen nässen. Die türkische Autorin Elif Safak
       beschreibt es als einen unsichtbaren Splitter unter der Haut, an der Spitze
       des Fingers. „Willst du es entfernen, vergeblich. Versuchst du es zu
       zeigen, ebenso vergeblich. Es wird zu deinem Fleisch, deinen Knochen, ein
       Teil deines Körpers. Ein Gliedmaß, das sich nicht mehr entfernen lässt, sei
       es dir noch so fremd, so anders“, schreibt sie.
       
       Gurbet ist eines der vielen Worte, für die ich im Deutschen keine einfache
       Übersetzung finde. Genauso, wie ich Gedanken im Deutschen in keinen
       einfachen türkischen Satz fassen kann. Ich will die „Herausforderung“
       erklären, das „Dasein“ und die „Schadenfreude“. Für jedes einzelne Wort
       braucht es mehrere Sätze. Nur dann versteht mein Gegenüber, das, was ich
       dabei fühle. So leben manche Gefühle nur in bestimmten Sprachen. Sprache
       öffnet uns die Welt und grenzt uns ein – im gleichen Moment.
       
       „Bir lisan, bir insan. Iki lisan, iki Insan“ lautet ein türkisches
       Sprichwort: Eine Sprache ist ein Mensch, zwei Sprachen sind zwei Menschen.
       Folglich sind drei Sprachen, drei Menschen.
       
       Im Deutschen spreche ich viel und schnell. In der Zeit, die man mir gibt,
       versuche ich so viel unterzubringen, wie nur möglich – denn ich will
       erzählen, erklären. Deutsch sprudelt aus mir heraus. Ich liebe diese
       Sprache, mit deren Worten ich gerne spiele und vor der ich großen Respekt
       habe.
       
       Im Englischen bin ich ruhiger. Ich rede nicht so eloquent wie im Deutschen,
       aber da ist es mir auch nicht so wichtig. Ich vertraue auf das, was ich
       sage, und auf mein Gegenüber, das mit mir denkt. Dort überlasse ich den
       Gedanken Raum. Und wenn mir mal ein Wort nicht einfällt, erfinde ich
       einfach eines. Und meistens funktioniert’s.
       
       Im Türkischen schreibe ich Gedichte. Im Türkischen bete ich. Es ist die
       Sprache, die ich als Erstes lernte. Die Sprache, in der ich von meiner
       Familie geliebt wurde, die Sprache, in der ich das erste Mal weinte, die
       Sprache, in der ich das erste Mal liebte.
       
       Und so, egal in welcher Sprache ich spreche, es fehlt die andere. Und das
       ist eine schöne Herausforderung.
       
       4 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kübra Gümüsay
       
       ## TAGS
       
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