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       # taz.de -- Fehler bei NSU-Ermittlungen: Sie hätten nur hinhören müssen
       
       > 13 Jahre lang ließen Polizei und Geheimdienste die NSU-Terroristen rauben
       > und morden - das größte Staatsversagen in der BRD-Geschichte.
       
   IMG Bild: NSU-Nagelbombenanschlag in Köln
       
       BERLIN taz | Sie kamen einfach nicht mehr runter von ihrer fixen Idee:
       Irgendeine kriminelle Bande müsse doch hinter der Mordserie an neun
       Migranten stecken. Drogen, Rotlicht, Schutzgeld, Ausländermafia. Doch so
       sehr die Polizisten von der Sonderkommission „Halbmond“, die später in
       „Bosporus“ umbenannt wurde, auch wühlten, sie kamen nicht weiter – weil es
       nichts zum Weiterkommen gab. Nicht in diese Richtung.
       
       Zwischen August 2005 und April 2007 schleuste die Polizei sogar verdeckte
       Ermittler in das Umfeld der Opferfamilien ein, getarnt als türkische
       Privatdetektive im Auftrag einer ominösen ausländischen Organisation. Die
       Undercover-Polizisten pirschten sich an die Witwen der Mordopfer ran oder
       sprachen, wie im Fall des am 9. September 2000 in Nürnberg ermordeten Enver
       Simsek, Verwandte in Moscheen an. Auch in türkischen Cafés und Geschäften
       in der Nachbarschaft der Ermordeten hörten sie sich um.
       
       Doch selbst auf diesem Irrweg hätten die Ermittler der Wahrheit näher
       kommen können – wenn sie den Leuten nur zugehört hätten.
       
       In der Dortmunder Nordstadt, wo am 4. April 2006 Mehmet Kubasik in seinem
       Kiosk ermordet worden war, sagte ihnen ein Call-Shop-Betreiber: Die Taten
       hätten sicher nichts mit einer türkischen Mafia zu tun, sondern mit
       Neonazis. „Der Mörder will damit erreichen, dass die in Deutschland
       lebenden Türken verunsichert werden und Deutschland verlassen“, wird der
       Mann in geheimen Akten über die verdeckte Operation wiedergegeben.
       Ähnliches war auch in einem türkischen Café zu hören: „Alle sind sich
       einig, dass die Morde einen rechtsextremen Hintergrund haben. Die Täter
       müssen Deutsche sein.“
       
       Erst im November 2011 stellte sich heraus, wie recht sie hatten.
       
       ## 10 Tote, über 20 Verletzte
       
       Mehr als zehn Jahre konnten die rechtsextremen Terroristen des
       Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) raubend und mordend durch
       Deutschland ziehen. Zehn Menschen erschossen sie und verletzten bei
       Bombenanschlägen mehr als 20 weitere – ohne dass sie jemand stoppte.
       
       Es ist das größte Versagen der deutschen Sicherheitsbehörden in der
       Geschichte der Bundesrepublik. Von „unserem 11. September“ hat
       Generalbundesanwalt Harald Range gesprochen. Vier Untersuchungsausschüsse
       in Berlin, Erfurt, Dresden und München befassen sich inzwischen mit dem
       Debakel. Woche für Woche wird dort immer deutlicher: So wie bisher können
       die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern, können Polizei,
       Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaften nicht weitermachen.
       
       „Diese Mordserie stellt die Strukturen des Staates grundlegend in Frage“,
       sagt Rechtsanwalt Yavuz Narin, der die Familie des am 15. Juni 2005 in
       München ermordeten Theodoros Boulgarides vertritt. Mehrere Male hätten die
       Ermittler die Chance gehabt, den Tätern auf die Schliche zu kommen. Spät,
       aber immerhin, vermutete 2006 ein bayerischer Polizeiprofiler, dass die
       Täter aus der rechten Szene stammen und aus dem Motiv Fremdenhass heraus
       morden könnten.
       
       Doch die Spur nach rechts wurde völlig uninspiriert verfolgt. Und nur
       wenige Monate später behauptete ein weiteres Fallanalytiker-Team aus
       Baden-Württemberg: Hinter den Taten stecke eine kriminelle Bande aus
       Südosteuropa mit einem archaischen Ehrenkodex. Man war wieder ganz auf
       Linie.
       
       Das noch größere Versagen scheint sich aber in Thüringen abgespielt zu
       haben. Dort tauchten die drei militanten Jenaer Neonazis Uwe Mundlos, Uwe
       Böhnhardt und Beate Zschäpe im Januar 1998 unter. Und obwohl sich das
       spätere NSU-Trio kaum 100 Kilometer entfernt in Sachsen mit Hilfe
       altbekannter Neonazis versteckte – erst in Chemnitz, dann in Zwickau –,
       gelang es den Zielfahndern des Landeskriminalamts nicht, sie zu finden.
       
       ## Geheimdienst vs. Polizei
       
       Dabei hatte der Thüringer Verfassungsschutz in ihrem direkten Helferumfeld
       einen V-Mann. Es gab mehrere Hinweise, dass die drei Abgetauchten sich
       Waffen beschaffen und Überfälle begehen könnten – die Geheimdienstler
       behielten sie für sich. Der Verfassungsschutz des Landes habe „die
       Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden bei der Suche nach dem Trio massiv
       beeinträchtigt“, heißt es in dem im Mai veröffentlichten ersten Bericht
       über das NSU-Versagen („Schäfer-Bericht“).
       
       Das Amt war keine Sicherheitsbehörde, sondern eine Unsicherheitsbehörde.
       
       Doch nicht nur die Thüringer Behörden, sondern auch andere
       Verfassungsschutzämter und Polizeistellen hatten Spitzel im Umfeld des NSU
       – und bekamen dennoch nichts mit. Vor Kurzem haben die Ermittler eine
       geheime Liste mit den 100 „relevanten Personen“ um Mundlos, Böhnhardt und
       Zschäpe erstellt. Auf ihr stehen nach taz-Informationen fünf V-Leute von
       Bund und Ländern, darunter der Mann, der dem späteren NSU-Trio vor dessen
       Abtauchen Sprengstoff beschaffte und von 2000 bis 2011 für das Berliner
       Landeskriminalamt als Informant diente.
       
       Vier Geheimdienstchefs sind seit Auffliegen des NSU zurückgetreten. Heinz
       Fromm, langjähriger Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, sprach,
       als er im Juli hinwarf, angesichts des Debakels von einer „schweren
       Niederlage für die deutschen Sicherheitsbehörden“. Es sei schwierig, das
       Vertrauen wiederherzustellen – „wenn es überhaupt geht“, fügte der
       Exverfassungschef hinzu.
       
       Fast wöchentlich sind in den Monaten seit Auffliegen des NSU neue Details
       aufgetaucht, die selbst konservative Innenpolitiker an der Arbeit der
       Sicherheitsbehörden zweifeln lassen. „Es gab mehrere schwere
       Ermittlungsfehler“, sagt der CDU-Obmann im Untersuchungsausschuss, Clemens
       Binninger, der früher selbst Polizeibeamter in Baden-Württemberg war. „Das
       muss man so klar sagen.“
       
       ## V-Männer in Dönerbuden
       
       Und dann gibt es noch die Kategorie „Unglaublich, aber wahr“. In Hamburg
       heuerte die Polizei einen Geisterbeschwörer an, der behauptete, mit dem
       NSU-Opfer Süleyman Tasköprü im Jenseits in Kontakt zu stehen.
       
       In Nürnberg und München ließen die Ermittler von V-Leuten zum Schein
       Dönerbuden betreiben. Das Ziel laut geheimer Einsatzakten: „Erkennen von
       kriminellen Strukturen bei Kleingewerbetreibenden“ im „Türkenmilieu“. Die
       atemberaubende Idee: Wenn der Betreiber des Fake-Imbisses seine Rechnungen
       nicht bezahlt, könnte das eine hinter den Taten vermutete Mafia
       herausfordern, die dann womöglich ihre Killer schickt.
       
       Doch selbst mit dieser Ermittlungsmethode aus einem schlechten
       „Tatort“-Krimi bekam die Polizei einen Hinweis, der sie in die richtige
       Richtung hätte führen können.
       
       Denn im Herbst 2006 tauchte an der Undercover-Dönerbude in der Münchner
       Innenstadt ein Rechtsextremer auf. „Die Türken gehören raus“, pöbelte er
       los und zeigte auf ein am Imbiss angebrachtes Fahndungsplakat zur Mordserie
       an den neun Migranten. Wenn man die Türken nicht vertreiben könne, müssten
       sie „halt so heimgeschickt werden“ – als Leichen.
       
       Man hätte nur hinhören müssen.
       
       1 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolf Schmidt
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