URI: 
       # taz.de -- Missbrauchsskandal bei der BBC: Von Helden und Helfern
       
       > Jahrelang sollen britische Prominente Kinder sexuell missbraucht haben.
       > Gibt es Parallelen zu den Fällen in Deutschland?
       
   IMG Bild: Ausgezeichnet: Jimmy Savile mit Orden.
       
       BERLIN taz | Spätestens seitdem der Premier den Fall zur Chefsache
       erklärte, hat das Thema sexuelle Gewalt auch in Großbritannien eine neue
       Dimension erreicht. David Cameron sagte im Parlament, die BBC habe sich
       „ernsten Fragen“ zu stellen, die Ermittler bekämen vollste Unterstützung.
       Es geht also nicht mehr darum, ob Jimmy Savile, der schrullig-populäre
       Pop-Moderator, Mädchen sexuelle Gewalt angetan hat.
       
       Cameron und seine Landsleute sehen ratlos und schockiert darauf, wer alles
       mitgeholfen, mitverbrochen und wer alles weggesehen hat: Gab oder gibt es
       in der ehrwürdigen BBC einen Ring von Pädokriminellen? Warum hat die
       Polizei insgesamt sieben Anzeigen gegen den zum Ritter geschlagenen Sir
       Savile nicht zur Anklage gebracht? Wurde eines der Kinderheime, die Savile
       mit zig Millionen Pfund unterstützte, gar als Nachschublager für kleine
       verletzbare Mädchen missbraucht? Beinahe täglich erhöht sich die Zahl der
       Opfer, die angeben, von Savile sexuell überwältigt worden zu sein. Letzter
       Stand: 300, alles gravierende Fälle.
       
       Die Enthüllungen erinnern an katholische Internate und Odenwaldschule vor
       zwei Jahren in Deutschland: Damals war schnell klar, wie tief die
       Institutionen in die sexuelle Gewalt verstrickt waren. Gerold Becker, der
       Leiter der Odenwaldschule, war nicht so populär wie der „Top of the
       Pops“-Moderator Jimmy Savile. Aber auch der Theologe und Pädagoge war ein
       Popstar seiner Zunft.
       
       Er trat in Talkshows auf, hielt in der Paulskirche die Laudatio auf Astrid
       Lindgren als Friedenspreisträgerin und hatte Freunde in den höchsten
       Kreisen. Bis heute, zwei Jahre nach dem Sichtbarwerden, ist freilich die
       1-Million-Euro-Frage noch unbeantwortet, die „Um zu“-Frage: Hat Gerold
       Becker das superdemokratische Internat nur übernommen, um zu missbrauchen?
       Die Reformpädagogen wehren sich wie besessen gegen den Verdacht, dass auf
       ihrem Zauberberg die Kuschelpädagogik vielleicht zu ihrer eigentlichen
       Bestimmung gekommen ist: Nähe zum Kind, pädagogischer Eros, Knabenliebe
       wären dann Chiffren für sexuelle Gewalt. Die Indizien sind schlagend, dass
       es eine feindliche Übernahme der Musterschule durch Pädokriminelle gegeben
       hat – unter den Augen der Schulbehörden. Dennoch wurde bis heute keine
       unabhängige Untersuchung in Auftrag gegeben. Wie lange will die hessische
       Landesregierung noch warten?
       
       ## Keinen Respekt vor der BBC
       
       Ganz anders in Großbritannien. Keine drei Wochen ist die erste Enthüllung
       bekannt, da gibt es gleich zwei Sonderermittler: Richterin Janet Smith wird
       der BBC auf den Zahn fühlen, Keir Starmer den Sicherheitsbehörden. Bereits
       jetzt kursiert eine Liste von neun Namen, auf der Mitarbeiter des
       weltberühmten Senders als mögliche Mittäter geführt werden. Die Briten
       haben keinen Respekt vor ihrer British Broadcasting Corporation. Man darf
       erwarten, dass sich Richterin Smith den Mittätern ohne falsche Rücksicht
       nähern wird. Dass sie mit Interviews das Täterumfeld ausleuchten wird. Und
       eine peinliche Befragung darüber beginnen wird, warum die folgenden, von
       der BBC aufgenommenen Sätze eines Opfers nicht auf den Sender, sondern ins
       Archiv gingen: „Ich sollte Savile anfassen, streicheln, oral befriedigen.
       Aber ich wollte das nicht. Und er versprach mir, dass ich und meine
       Freundin dann in seine Sendung kommen dürfen.“
       
       Noch ist nichts ausermittelt. Aber man darf nach dem, was man jetzt schon
       weiß, annehmen, dass die Sonderanwältin ein Netzwerk von Männern
       identifizieren wird, das seine eindeutigen Absichten unter der
       Laisser-faire-Ideologie der 70er Jahre gut tarnen konnte.
       Kinderpornografische Ringe sind oft geschlossene und gesicherte
       Konglomerate, die einen hohen Organisationsgrad aufweisen. In den 1970ern
       freilich war es offensichtlich möglich, pädosexuelle Interessen, eingewoben
       in den Zeitgeist der sexuellen Befreiung, kaum verhüllt zu verfolgen.
       
       Wie Savile sich offen und gezielt an (Opfer-)Gruppen herangroomte, das war
       nur mit einem Persilschein möglich, wie ihn auch ein Teil der deutschen
       intellektuellen und pädagogischen Elite Gerold Becker ausstellte. Über
       Saviles und Beckers Art, sich Kindern zu nähern, sich ihrer zu bemächtigen
       und über sie zu äußern, gab es stets Gerüchte, ohne dass Kollegen oder
       Journalisten einmal den Mut besessen hätten durchzubuchstabieren, was das
       eigentlich bedeutet: etwas „mit kleinen Jungs/Mädchen zu haben“.
       
       ## Was ist schon dabei
       
       Gerold Becker schrieb in seinem ersten programmatischen Aufsatz, dass es
       Ziel des Lernens (an der Odenwaldschule) sei, dass Kinder den Genuss ihrer
       eigenen Sexualität lernen und ausbauen. Niemand fragte 1973 öffentlich: Was
       bedeutet das? Savile sagte über den Konsum von Kinderpornos des Rockers
       Gary Glitter, was sei schon dabei, er säße halt zu Hause und sehe sich
       heikle Filmchen an. Niemand fragte sich: Wie handelt Sir Savile eigentlich
       selbst, wenn er so etwas sagt?
       
       Das Augenmerk freilich darf sich nicht nur auf die Erforschung des
       Faszinosums „charismatischer Täter“ richten. Genauso interessant, wenn
       nicht wichtiger ist das Umfeld des Täters. Bei Jimmy Savile wurde sehr
       schnell herausgefunden, dass die Tatorte direkt in den BBC-Studios gewesen
       sein dürften. Dahin lud sich der Moderatorenstar Mädchen ein, teils aus
       Heimen, sozial entwurzelte Kinder, die sich plötzlich den Übergriffen des
       großen „Jim’ll Fix It“ gegenübersahen.
       
       Schwer vorstellbar, dass Kollegen in den Sendern den Missbrauch nicht
       wahrgenommen haben. An der Odenwaldschule wird bis heute behauptet, die
       sexuelle Gewalt des Schulleiters und seiner Kumpane sei nicht sichtbar
       gewesen. In Wahrheit kursieren viele Schilderungen, nach denen Lehrer mit
       eigenen Augen sahen oder von Schülern erzählt bekamen, wie der große Gerold
       Becker missbrauchte. Ganz ähnlich ist es in kirchlichen Internaten, wo etwa
       die Jesuiten nachweislich wussten, was ihre teils hoch anerkannten Kollegen
       Patres mit Schutzbefohlenen anstellten – und es weder enthüllten noch
       anzeigten. Das bedeutet: Der charismatische Held ist in Wahrheit ein
       autoritärer Popstar, Schulleiter oder Priester, der tut, was er will. Und
       niemand hat den Mumm, diese Autorität infrage zu stellen, selbst wenn sie
       offensichtlich falsch handelt.
       
       Bei allen Parallelen liegt der Unterschied zwischen Großbritannien und
       Deutschland auf der Hand: In England wird Sonderermittlerin Smith genau
       diese Fragen stellen – an die direkte Umgebung Saviles, an Kollegen wie
       Vorgesetzte. In Deutschlands Täterinstitutionen wie der Odenwaldschule ist
       das bis heute nicht geschehen. Kein Mittäter, Mitläufer oder Mitwisser,
       keine Kollege, Rektor oder Schulrat musste sich den peinlichen Fragen eines
       Sonderermittlers stellen. Das Netzwerk von Jimmy Savile wird hoffentlich
       sehr bald erkennbar sein. Das von Gerold Becker aber hüllt sich in
       Schweigen – und wartet auf seinen großen Konter.
       
       31 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Füller
       
       ## TAGS
       
   DIR BBC
   DIR Odenwaldschule
   DIR Missbrauch
   DIR Vergewaltigung
   DIR Missbrauch
   DIR Kinder
   DIR ZDF
   DIR BBC
   DIR BBC
   DIR BBC
   DIR Absolute Mehrheit
   DIR Kindesmissbrauch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Anklage gegen britischen Glam-Rocker: Endgültig ausgeglitzert
       
       Gary Glitter ist wegen sexuellen Missbrauchs an zwei Mädchen angeklagt
       worden. Er wurde schon 2006 in Vietnam wegen Vergewaltigung verurteilt.
       
   DIR Missbrauch durch BBC-Moderator: Kinderküsse für ein Autogramm
       
       Die BBC arbeitet die Verbrechen von Moderator Jimmy Savile in einer
       Dokumentation auf. Auch, weil der Sender mit seiner Struktur Savile
       schützte.
       
   DIR Kindercasting Show: Immer auf die Kleinen
       
       „The Voice Kids“ startet am Freitag Abend auf Sat 1. Und Sänger Tim Bendzko
       trällert das alte Lied von der Natürlichkeit der Kinder.
       
   DIR Kinderheime in Westdeutschland: Wie in Sibirien
       
       500.000 Kinder saßen in der frühen Bundesrepublik in kirchlichen Heimen.
       Der Film „Und alle haben geschwiegen“ erzählt ihre Geschichte.
       
   DIR BBC-Bericht zur Jimmy-Savile-Affäre: „Völlig unfähig“
       
       Die Missbrauchsaffäre um den verstorbenen BBC-Star Jimmy Savile wird
       aufgearbeitet. Ein Untersuchungsbericht beleuchtet den Fall und die
       versuchte Vertuschung.
       
   DIR Rücktritt des BBC-Chefs Entwistle: 54 Tage Generaldirektor
       
       Nach dem Rücktriit des BBC-Chefs: Entwistle sei von „Versagern und
       Feiglingen“ zu Fall gebracht worden, sagt BBC-Moderator Jeremy Paxman.
       
   DIR Kommentar BBC: Noch lange nicht am Ende
       
       Die Panne, die zum Rücktritt von BBC-Chef Entwistle führte, war blamabel.
       Doch die Feinde des Senders freuen sich zu früh.
       
   DIR Weil Altmaier sonst nicht kommt: Beck aus Talkshow ausgeladen
       
       Peter Altmaier soll die Ausladung von Volker Beck aus der Show „Absolute
       Mehrheit“ gefordert haben. Jetzt findet die Sendung ohne Vertreter der
       Grünen statt.
       
   DIR Missbrauchs-Affäre bei der BBC: TV-Comedian verhaftet
       
       Die Kindesmissbrauchsaffäre bei der BBC zieht weitere Kreise. Nach der
       Verhaftung eines Musikers ist jetzt ein weitere Prominenter festgenommen
       worden.
       
   DIR Aufarbeitung Odenwaldschule: In der Sackgasse
       
       Das einstige Musterprojekt Odenwaldschule findet keinen Umgang mit den
       Opfern sexueller Gewalt. Ganz anders als die Penn State University in den
       USA.
       
   DIR Kommentar Odenwaldschule: Schluss mit den Tricks
       
       Die Schuld der Odenwaldschule ist extrem. Das Ziel, das Vorbild für
       Aufarbeitung und Entschädigung zu werden, war arrogant. Denn erfüllt wird
       es nicht.
       
   DIR Vordstandswahl an der Odenwaldschule: Trickreich gegen die Betroffenen
       
       Zwei Jahre nach der Aufdeckung wählt die Odenwaldschule wieder einmal einen
       neuen Vorstand. Kommen jetzt endlich Reformer? Anzeichen dafür gibt es
       kaum.