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       # taz.de -- Latinos vor der US-Präsidentschaftswahl: Die entscheidende Minderheit
       
       > Diomara Balbuena ist papierlose Patriotin und Wahlkämpferin. Ob sie eine
       > Zukunft in den USA hat, hängt vom zukünftigen Präsidenten ab.
       
   IMG Bild: Land der Freien: Der Grenzzaun trennt Mexiko von den USA.
       
       PUEBLO taz | Was sie sagen würde, wenn Präsident Obama ihr in diesem Moment
       gegenübersäße? Der jungen Frau rollen Tränen über die Wangen. Sie zittert
       vor Aufregung. Aber sie braucht nur einen Moment, um sich zu fangen. „Wir
       alle verdienen die Chance, etwas aus unserem Leben zu machen“, sagt sie
       ruhig: „Bitte geben Sie uns diese Chance.“
       
       Diomara Balbuena ist erst in diesem Sommer 18 geworden. Aber sie hat schon
       vor langer Zeit den Ernst des Lebens kennengelernt. Während andere Kinder
       sorglos spielen konnten, wusste sie, dass ihre Existenz in den USA an einem
       hauchdünnen Faden hängt. Sie war sechs Monate alt, als die Eltern ihre
       Heimatstadt Guadalajara in Mexiko verließen und die Grenze in den Norden
       überquerten. Das war 1994, als die Binnenmarktöffnung zwischen Mexiko und
       den USA in Kraft trat.
       
       Seither ist Diomara eine Papierlose. Eine „Illegale“, wie viele
       US-Amerikaner sagen, der republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt
       Romney eingeschlossen. Er will, dass Diomara, ihre Eltern und die rund 12
       Millionen anderen „Illegalen“ aus den USA verschwinden. Als Methode schlägt
       er die „Self-Deportation“ vor. Der Ausdruck kommt in keinem Lexikon vor.
       Aber er macht Millionen Menschen Angst.
       
       Kurz vor Diomaras 18. Geburtstag hat Barack Obama ein Fenster für
       Betroffene wie sie geöffnet. Die „Dreamer“ genannten jungen Leute dürfen
       unter bestimmten Umständen – wenn sie unter 30 und vor ihrem 16. Lebensjahr
       in die USA gekommen sind und keine Vorstrafen haben – einen Antrag auf eine
       Aufenthaltsgenehmigung stellen. Die ist zwar auf zwei Jahre befristet. Kann
       aber verlängert werden.
       
       ## Jede Menge neue Sympathien
       
       Vor dem Angebot war Präsident Obamas Popularität bei Latinos im freien
       Fall. Er hat die versprochene „große Einwanderungsreform“ nicht eingelöst.
       Und unter seiner Präsidentschaft ist eine Rekordzahl von Papierlosen
       abgeschoben worden. Aber jeder Latino in den USA kennt auch einen
       „Dreamer“. Und mit seinem Vorstoß zu ihren Gunsten gewinnt Obama auf einen
       Schlag jede Menge neue Sympathien.
       
       Diomara erfüllt sämtliche Bedingungen für eine vorübergehende
       Aufenthaltsgenehmigung. Und sie hat inzwischen auch die mehr als 1.000
       Dollar, die sie für Anwalt und Behörden braucht. Aber vier Monate nach
       Obamas Ankündigung hat sie trotzdem noch keinen Antrag eingereicht. Sie und
       ihre Eltern überlegen, ob der Zeitpunkt günstig ist.
       
       Die Balbuenas stecken in demselben Dilemma wie Hunderttausende
       Einwandererfamilien. Romney hat gesagt, dass er die Entscheidung wieder
       rückgängig machen will. Wenn er im November gewinnt, hätten die Behörden
       sämtliche Daten der Antragsteller – inklusive ihrer Fingerabdrücke – und
       wüssten, wo sie zu finden wären.
       
       Vorerst konzentriert Diomara sich darauf, Wahlkampf zu machen. Während ihre
       ehemaligen Klassenkameraden zum ersten Mal selbst wählen dürfen, zieht sie
       für die Gruppe Progressive Action durch Colorado, um andere zum Wählen zu
       ermuntern.
       
       ## Gehen sie wählen, gewinnt Obama
       
       Colorado ist einer der acht hart umkämpften „Swing-States“, von deren
       Entscheidung der Ausgang der Präsidentschaftswahlen abhängt. Und die meist
       umworbene entscheidende Wählergruppe sind die Latinos. Ihre Zahl in
       Colorado ist binnen zehn Jahren um 41 Prozent gestiegen. Sie sind 21
       Prozent der Bevölkerung des Bundesstaates. Und 13 Prozent der Wähler.
       
       Da mehr als drei Viertel der Latinos demokratisch wählen, ist die Rechnung
       einfach: Falls sie am 6. November massenhaft an die Urne gehen, gewinnt
       Obama den Swing State. Falls sie zu Hause bleiben, gewinnt Romney.
       
       An diesem sonnigen Tag ist Diomara in Pueblo unterwegs, der Stadt im Süden
       von Colorado. Ihre Aufgabe lautet, die Wähler zu mobilisieren. Im
       Stadtzentrum sind manche Autos schräg geparkt, wie dereinst Pferde im
       Gold-Rush im 19. Jahrhundert. Die Prunkbauten längs der Union-Street
       erinnern an den zweiten wirtschaftlichen Boom der Stadt, der bis in die
       Mitte des 20. Jahrhunderts hineinreichte, als die Rockefellers in der
       Stahlhauptstadt des fernen Westens ein und aus gingen.
       
       In dem stillgelegten Bahnhof erinnert ein Schild aus dem Eröffnungsjahr
       1880: „Alle irischen, deutschen, französischen, griechischen, polnischen,
       spanischen, mexikanischen und jüdischen Passagiere sind verpflichtet“,
       steht darauf, „in den Wartesaal für Einwanderer zu gehen.“
       
       ## Ein Land vieler Nationen
       
       Von den heutigen Einwohnern Pueblos verstehen sich 49,5 Prozent als
       „Latinos“. Aber längst nicht alle sind eingewandert. Für viele gilt, was
       die 40-jährige Demokratin Theresa Trujillo über ihre Familie sagt: „Wir
       haben keine Grenze überquert. Die Grenze hat uns überquert.“
       
       Sie stammt von indianischen und europäischen Vorfahren ab, die
       zusammengekommen sind, bevor Pueblo US-Amerikanisch wurde. Die Region war
       nacheinander – und teilweise gleichzeitig – in spanischer, französischer
       und britischer Hand. Später gehörte sie zu Mexiko. Dann zu dem kurzfristig
       unabhängigen Texas.
       
       In den vergangenen Jahren des Wachstums der Latino-Community von Colorado –
       und angesichts der Prognose, dass die weißen Bewohner der USA spätestens im
       Jahr 2050 in die Minderheit geraten werden, ist das Selbstbewusstsein der
       Latinos gestiegen. Unter Papierlosen in Colorado ist gelegentlich zu hören:
       „Wir nehmen dieses Land hier zurück.“
       
       Diomara hat einen iPod Touch dabei, der ihr sagt, an welche Haustüren sie
       klopfen soll und der ihr zwei Standardfragen vorgibt: „Was ist das
       wichtigste politische Thema für Sie: Gesundheit, Jobs oder Erziehung?“ Und:
       „Wen würden Sie wählen, wenn die Wahlen morgen stattfänden?“ Dazu hat sie
       Flugblätter auf Englisch und Spanisch dabei mit der Überschrift: „Die
       Entscheidung für unsere Familien ist klar“, außerdem einige Punkte aus dem
       Programm der Demokraten.
       
       ## Arbeiterstadt mit mehr Mietern als Hausbesitzern
       
       „Natürlich wählen mein Mann und ich Obama“, sagt eine Hausfrau an der 11.
       Straße in Pueblo. An ihren Fingern klebt Tortillateig. Aus ihrer Küche weht
       der Duft von gefüllten Chillies. Sie spricht Spanisch mit Diomara, und die
       hebt anerkennend den Daumen. Tippt in ihren iPod Touch, dass diese Familie
       wählen wird. Und geht dann weiter. An den nächsten drei Adressen sind die
       aufgelisteten Wähler verzogen. An der vierten Tür macht schließlich ein
       Latino auf. Er sagt „Hola“ zur Begrüßung. Aber Diomara spricht Englisch mit
       ihm.
       
       Pueblo ist eine Arbeiterstadt. Mit mehr Mietern als Hausbesitzern und mit
       einer großen Bevölkerungsfluktuation. Seit dem Zusammenbruch der
       Stahlindustrie im Jahr 1982 ist die Stadt in das Metallrecycling und
       zuletzt in den Bau von Windkraftanlagen eingestiegen.
       
       Die Bevölkerungszahl sinkt, aber die Arbeitslosigkeit liegt mit 11 Prozent
       immer noch weit über dem nationalen Durchschnitt. Und in der Innenstadt
       stehen Geschäfte leer. Dass Pueblo dennoch nicht wie eine Geisterstadt
       wirkt, liegt vor allem an den Künstlern, die den günstigen Mieten gefolgt
       sind. Ihre Werke füllen die leeren Vitrinen in der Innenstadt.
       
       An der Türe des Trailers am Ortsrand von Pueblo, wo Diomaras Familie wohnt,
       hat noch nie ein Wahlkämpfer geklopft. Bei den Balbuenas sind nur die drei
       in den USA geborenen jüngsten Kinder „legal“. Aber in ihrem Wahlkampf
       erwähnt Diomara nichts davon, dass sie selbst keine Papiere hat. „Die Leute
       hätten dann vielleicht Mitleid mit mir“, sagt sie.
       
       ## Verschlossene Türen nach der High-School
       
       Bloß in ihrer katholischen Kirchengemeinde, in der sie samstags auf
       Englisch, und sonntags auf Spanisch aus der Bibel vorliest, hat sie darüber
       gesprochen. Das war zu dem Zeitpunkt, als Diomara verstand, dass sie nach
       dem High-School-Abschluss vor verschlossenen Türen stehen würde. Sie hat
       Schulen in allen fünf US-Bundesstaaten besucht, in denen ihr Vater
       Gelegenheitsarbeiter war. Immer war sie eine gute Schülerin.
       
       Aber als Papierlose darf sie keinen Führerschein machen. Hat keine
       Sozialversicherungsnummer. Bekommt kein Stipendium. Und muss, wenn sie an
       der Universität von Pueblo studieren will, mehr als doppelt so hohe
       Studiengebühren zahlen: Beinahe 18.000 Dollar pro Semester – statt 7.000
       für „einheimische Studenten.
       
       Aus der papierlosen Diomara ist eine US-amerikanische Patriotin geworden.
       Als ihre Eltern im Krisenjahr 2008 nach Guadalajara zurückkehren wollen,
       weil der Vater keine Arbeit mehr findet und das Überleben in den USA immer
       härter wird, ist es Diomara, die sie überzeugt, zu bleiben. „Ich komme
       nicht mit“, sagt die 14-Jährige, „dieses Land bietet die besseren Schulen,
       die besseren Technologien und die besten Chancen für mich.“
       
       27 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dorothea Hahn
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