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       # taz.de -- Schlagloch Steinbrücks Vorträge: Die Diktatur der Durchschnittlichkeit
       
       > Art und Umfang der Vorträge von Peer Steibrück wurden in den Medien
       > ungenügend diskutiert. Der Mann kann vorlesen. Mich hat er überzeugt.
       
   IMG Bild: Woody Allen: Nicht in Polen, sondern in Spanien. Und er hört womöglich Bizet.
       
       Ich glaube, Art und Umfang der Vortragstätigkeit des neuen
       SPD-Kanzlerkandidaten und früheren Finanzministers sind bislang nur
       ungenügend erfasst.
       
       Vor fünf Jahren trat Peer Steinbrück im früheren Staatsratsgebäude der DDR
       auf, an der Hertie School of Governance. Dort kann man „gutes Regieren im
       21. Jahrhundert“ lernen und etwa Master of Public Policy werden. Von den
       Wandfriesen schauten die Werktätigen des Volkes in froher produktiver
       Einfalt auf den damaligen Finanzminister, und derart ermutigt begann der
       heutige Kanzlerkandidat vorzulesen: „Liebes Fräulein Arendt! Ich muss heute
       Abend noch zu Ihnen kommen und zu Ihrem Herzen reden.“
       
       Mit Fräulein Arendt ist Hannah Arendt gemeint, und der Agitator des Herzens
       ist kein anderer als Martin Heidegger, der Philosoph, der wie niemand sonst
       über die Eigentümlichkeiten unseres In-der-Welt-Seins nachdachte und zu
       folgendem Ergebnis gelangte: „Das Sein des Daseins besagt:
       sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt)-als-Sein-bei-(innerweltlich-begegnende
       m-Seienden).“ So weit, so gut.
       
       Um es vorwegzunehmen: Ich habe keine Ahnung, was Peer Steinbrück für diesen
       Abend bekommen hat. Ich weiß noch, dass er zunächst sehr darum gebeten
       hatte, doch lieber Martin Heidegger lesen zu dürfen als Hannah Arendt, aber
       die Chefin des Bonner Literaturhauses, Karin Hempel-Soos, bestand auf
       Arendt.
       
       Vielleicht irritierte den Kanzlerkandidaten schon damals, dass Heidegger
       alles von den Griechen her dachte, auch und erst recht die Kunst der
       Haushaltung. Heidegger hatte natürlich die etwas älteren Griechen im Sinn,
       und von deren Oikos kommt noch immer unser Wort Ökonomie, nur handelte es
       sich bei ihnen nicht um eine das ganze Leben tyrannisierende Macht, sondern
       um eine sehr untergeordnete Sphäre. Und an diesem Abend ging es gar um die
       Ökonomie der Liebe: Nur wenn bei ihm, Heidegger, kein Licht brenne, dürfe
       die Studentin zu ihm kommen.
       
       Wahrscheinlich hegt Peer Steinbrück einen gewissen Argwohn gegen die
       Liebesrhetorik des Philosophen: „Dass wir uns begegnen durften, wollen wir
       als Geschenk im Innersten behüten?“ Ökonomen haben kein wirkliches
       Verhältnis zu Geschenken, aber im Innersten musste dieses Präsent schon
       deshalb bleiben, weil den Platz im Äußeren Heideggers Ehefrau einnahm und
       er nicht vorhatte, es bis zum Äußersten kommen zu lassen. Aber egal wie:
       Was fehlt dem Finanzminister eigentlich, dass er solche Auftritte braucht,
       hatte ich anfangs gedacht, zum Missmut fest entschlossen. Doch Steinbrück
       machte das ganz unerwartet gut. Das änderte, ich gebe es zu, meinen Blick
       auf den Finanzminister.
       
       ## „Schwächere Persönlichkeitswerte"
       
       Die meisten Bundesbürger haben Peer Steinbrück noch nicht in der Rolle
       Martin Heideggers gehört, das zeigen die Umfrageergebnisse der
       Meinungsforschungsinstitute. Sie sehen Steinbrück weit hinter Merkel. Er
       erreiche „deutlich schwächere Persönlichkeitswerte“. Auf einer Skala von +
       5 bis – 5 liege die Kanzlerin bei 1,8 Punkten in den Augen der Männer, aus
       Sicht der Frauen sogar bei 2,0. Steinbrück schafft gerade mal 1,2 Punkte,
       gar nicht zu reden von der Platzierung bei Frauen unter 35. Die ist noch
       mieser.
       
       Ja, aber kann man sich die Kanzlerin denn in der Rolle der Hannah Arendt
       vorstellen? Mit diesem Dauergestus von Beflissenheit, von weltläufig
       gewordener Provinzialität? Was ist so attraktiv daran, wenn jemand keinen
       Satz formulieren kann, der wirklich von ihm ist?
       
       Die politische Form der Rede ist die des Statements. Politiker sind schon
       von Berufs wegen Bewirtschafter der eigenen Meinung. Sollte es wirklich
       falsch sein, wenn einer auch noch andere Formen der Mitteilung beherrscht?
       
       Wahrscheinlich sind die Medien schuld. Schon in den ersten Interviews nach
       Bekanntgabe seiner Kandidatur streuten sie Zweifel an der Lauterkeit der
       Steinbrück-Einkünfte. Journalisten beherrschen den Jargon der
       Verdächtigung, also des Formulierens eines gewissen Anhalts im Haltlosen.
       Das ist völlig in Ordnung, denn es gehört zur Orientierung, aber zur
       Orientierung gehört auch, diese Eigenart zu bemerken.
       
       Nehmen wir etwa den Spiegel: „Der designierte SPD-Kanzlerkandidat Peer
       Steinbrück pflegte eine größere Nähe zu Bankenlobbyisten und einer
       Wirtschaftskanzlei als bisher bekannt.“ Aus einem Informationsdefizit des
       Magazins wird unter der Hand ein Charakterdefizit des Besprochenen. Lieber
       Kanzlerkandidat, vielleicht haben die Skeptiker sogar recht, und ohnehin
       ist der Argwohn eine Tugend der Presse. Sie selbst halten nicht viel von
       Martin Heidegger. Aber der Mann hat Stärken, gerade bei der Analyse Ihres
       Falles.
       
       ## Was Journalisten kaum wissen
       
       Wir Journalisten legitimieren uns vorzugsweise mit der Ausübung unserer
       demokratischen Kontrollfunktion. Doch Journalisten sind, was sie selbst
       kaum wissen, zugleich Angestellte einer Diktatur, und zwar der größten und
       mächtigsten überhaupt: der Diktatur des „Man“, des unbestrittenen Souveräns
       des Alltags, also all dessen, was sich von selbst versteht.
       
       Die allgemein anerkannte Motivationsgrundlage in dieser Gesellschaft ist
       das Geldverdienen. „Man“ macht Dinge und unterlässt Dinge für Geld, andere
       Antriebslagen sind extra zu begründen. Der große Agent des „Man“ fragt
       genau hier nach, und wieso 7.000 Euro für einen Vortrag? Denn das „Man“ ist
       ebenso der größte Fürsprecher der Durchschnittlichkeit, „wachend über jede
       sich vordrängende Ausnahme“. Kein Wort über das Nächstliegende: Dass für
       Banken nur das einen Wert besitzt, was viel Geld kostet, und da machen
       Vortragsreisende keine Ausnahme.
       
       „Persönlichkeitswerte“, und dann noch auf einer Skala von + 5 bis – 5? Wer
       solche Statistiken erstellt, liest und glaubt, sollte sich zumindest ihres
       Aberwitzes bewusst sein. Über Martin Heidegger als Autor von Liebesbriefen
       ist alles entschieden, auch dank des Kanzlerkandidaten der SPD. Als
       Analytiker des Verborgensten, des Alltäglichen, der Diktatur des „Man“ ist
       er immer wieder eine Entdeckung.
       
       17 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kerstin Decker
       
       ## TAGS
       
   DIR Schlagloch
       
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