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       # taz.de -- Friedenspreis des Buchhandels: Mit der Kraft des Wassers
       
       > Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels wurde in diesem Jahr an den
       > chinesischen Schriftsteller Liao Yiwu verliehen. Er fand starke Worte.
       
   IMG Bild: Liao Yiwu zitierte den älteren Kollegen Liu Shahe: „Wir sind nun keine Dichter mehr, wir sind zu Zeugen der Geschichte geworden.“
       
       Selten ist die Rede eines Friedenspreisträgers mit einer solchen Spannung
       erwartet worden wie dieses Jahr, denn die öffentliche Bedeutung des
       Friedenspreisträgers hatte sich ohne sein Zutun seit Donnerstag dramatisch
       verändert. Seit bekannt wurde, dass Mo Yan den Nobelpreis für Literatur
       2012 erhalten wird, musste Liao Yiwu die richtigen Worte finden, die
       Fragwürdigkeit dieser Entscheidung einer schlecht informierten
       Öffentlichkeit nahezubringen, ohne wie ein Konkurrent zu wirken.
       
       In seiner Rede konnte er das nicht mehr sagen; denn sie musste schon vorher
       formuliert, ins Deutsche übersetzt und gedruckt werden. Liao, Mo Yan und
       die Buchmesse – die Geschichte beginnt 2009, als China Gastland der Messe
       war. S. Fischer hatte das bahnbrechende „Fräulein Hallo und der
       Bauernkaiser“ im Programm; ein Buch, das im chinesischen Samisdat, in der
       nichtkonformen Literaturszene, kursierte.
       
       Die chinesische Regierung ließ Liao nicht ausreisen, und so wurde er der
       bekannteste chinesische Autor der Messe 2009.
       
       Mo Yan dagegen kam als Mitglied der offiziellen Delegation, die sich weder
       zu Liaos Ausreiseverbot äußerte noch es zulassen wollte, dass chinesische
       Oppositionelle auf der Messe mitdiskutierten. Als das dennoch geschah,
       verließ die Delegation um Mo Yan den Raum. Peinlich.
       
       2010 kam Liao doch noch zur Messe; in einem dunklen chinesischen Restaurant
       im Frankfurter Bahnhofsviertel feierten wir die Verleihung des
       Friedensnobelpreises an seinen Freund Liu Xiabo, der in Beijing sofort
       arrestiert wurde. Von Mo Yan war nichts zu hören. Im Mai 2012 nahm er an
       einem staatlich organisierten Schriftstellertreffen teil, bei dem 100
       Autoren Maos Yenanrede zu Kunst und Literatur von 1942 abschrieben – ein
       ekelhafter Kotau vor der KP.
       
       ## Ungeheure Kraft des Lebens
       
       Liao, der aus Angst vor erneuter Inhaftierung 2011 Sichuan verlassen hat
       und in Berlin lebt, hat die Grenzen eines beengten Alltags von Widerstand
       und Anpassung, von Heroismus und Opportunismus, längst überschritten. Wer
       in ihm nur den Dissidenten sieht, wie Laudatorin Felicitas von Lovenberg zu
       Recht kritisierte, hat die ungeheure Kraft, die von Liaos Leben und Werk
       ausgeht, noch gar nicht begriffen.
       
       Liao dokumentiert die „Macht der Machtlosen“, von der Václav Havel, der
       Friedenspreisträger des Jahres 1989, damals in der Paulskirche gesprochen
       hat. Das verbindet; denn diese Macht hat das sowjetische Imperium zu Fall
       gebracht.
       
       Liao erinnerte an das epochale Erlebnis vom Juni 1989, als das
       kommunistische Regime seine Legitimationsgrundlage verlor. Wie auch in
       seinem neuesten Buch „Die Kugel und das Opium“ sprach er von dem
       neunjährigen Lü Peng, der am 4. Juni auf dem Weg zum Tiananmenplatz
       erschossen wurde. Eine ungeheure Empörung erfasste die Demonstranten, die
       über Nacht zu den todesmutigen „Unruhestiftern des 4. Juni“ wurden und
       danach zu „konterrevolutionären Elementen“.
       
       Liao erinnerte an seine eigene Verwandlung durch den 4. Juni, als ihm nach
       der Inhaftierung im Knast „die Haut des Poeten bei lebendigem Leibe“
       abgezogen wurde. Liao zitierte den älteren Kollegen Liu Shahe, der 1957 in
       Ungnade gefallen war: „Wir sind nun keine Dichter mehr, wir sind zu Zeugen
       der Geschichte geworden.“
       
       Liaos Arbeit entwickelt die Kraft des Wassers, von der die taoistische
       Philosophie spricht. Die „mündliche Überlieferung der Wahrheit“ (Liao)
       stärkt das Erinnerungsvermögen und unterspült die Legitimationsgrundlagen
       der Macht. In dieser Tradition liegt die Hoffnung begründet, die in Liaos
       Rede zur leitmotivischen Gewissheit wird: „Dieses Imperium muss
       auseinanderbrechen.“
       
       ## Monument der Barbarei
       
       Diesen zentralen Satz wiederholte er mehrmals auf Deutsch in seiner
       chinesisch vorgetragenen Rede. Ob die deutschen Zuhörer das verstanden
       haben, die in der Paulskirche so gern ihre Einheit feiern? Auch der
       chinesische Zentralstaat mit der Zwangsgewalt über Tibet und Sinkiang ist
       eine Idee des 19. Jahrhunderts, die erst die Kommunisten von Mao bis Deng
       realisiert haben.
       
       Mao berief sich in seiner invention of tradition auf Kaiser Qin, der den
       neuen Einheitsstaat mit einem Intellektuellenmassaker und einer
       Bücherverbrennung begann. Sein Werk, die Große Mauer, auf der wir als
       Touristen so gern spazieren, ist gar nicht schön, sondern ein Monument der
       Barbarei, das die geistige Gefangenschaft der chinesischen Gesellschaft
       symbolisiert.
       
       Aus diesem Gefängnis ist Liao entkommen. Sein Werk ist großartiges
       Hilfswerk für alle, die nicht die Möglichkeit haben, frei zu sprechen.
       
       14 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Detlev Claussen
       
       ## TAGS
       
   DIR Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
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