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       # taz.de -- (ÜBER)LEBEN IN BERLIN (Teil 14): "Rädchen der ganzen Gesellschaft"
       
       > In den vergangenen Monaten hat die taz insgesamt 13 Berlinerinnen und
       > Berliner über ihren Joballtag befragt. Die Arbeitspsychologin Antje Ducki
       > hat die Interviews gelesen. Die Aussagen zeigen, was nötig ist, damit ein
       > Mensch mit seiner Arbeit zufrieden ist, sagt Ducki.
       
   IMG Bild: Programmierer bei der Arbeit.
       
       taz: Wie heißen Sie? 
       
       Antje Ducki: Ich heiße Antje Ducki.
       
       Seit wann leben Sie in Berlin? 
       
       Seit 1981. Ich bin vor 31 Jahren zum Studium aus einer niedersächsischen
       Kleinstadt hierhergekommen.
       
       Wo arbeiten Sie? 
       
       An der Beuth Hochschule für Technik Berlin, als Professorin für Arbeits-
       und Organisationspsychologie.
       
       Wie sind Sie dazu gekommen? 
       
       Über einen ähnlichen Weg, wie ihn die Akademiker unter Ihren
       Interviewpartnern in der Arbeitsweltserie beschrieben haben: Ich habe lange
       in befristeten wissenschaftlichen Projekten gearbeitet und dann in Hamburg
       eine Assistentenstellen bekommen. Von dort aus habe ich mich auf
       Fachhochschulprofessuren beworben, weil ich vorher in der Praxis gearbeitet
       hatte und deshalb gerne angewandte Forschung machen wollte.
       
       Würden Sie gern etwas anderes arbeiten? 
       
       Nein, ich bin extrem glücklich und zufrieden mit der Arbeit, die ich mache.
       
       Sie haben ja auch einen unbefristeten Vertrag – im Gegensatz zu vielen
       unserer Interviewpartner der vergangenen Wochen. 
       
       Ja. Und Sie können sich nicht vorstellen, was für eine unglaubliche
       Erleichterung es war, diese Stelle als Professorin hier antreten zu können.
       Bis dahin hatte ich zwölf Jahre lang immer nur mit befristeten Verträgen
       gelebt. Den seelischen Druck, den ich vorher hatte, habe ich erst bemerkt,
       als ich den Vertrag für die Professur unterschrieben hatte – als der Druck
       abgefallen ist. Wie anstrengend eine Befristung für das eigene psychische
       Korsett ist, merkt man erst, wenn man in der Sicherheit angekommen ist.
       
       In Berlin werden zahlreiche Arbeitnehmer nie mehr in dieser Sicherheit
       ankommen. Unbefristete Stellen werden ziemlich rar. 
       
       Das stimmt. Wir müssen uns klarmachen, was das für einen Menschen bedeutet,
       nämlich eine dauerhafte, latente Existenzangst und Unsicherheit. Wer nicht
       weiß, was morgen kommt, muss permanent das Umfeld scannen: Habe ich alles
       getan, sodass ich auch übermorgen noch einen Job, ein Projekt habe? Diese
       Daueraufmerksamkeit bringt ein erhöhtes Risiko für Burn-out mit sich.
       Deswegen gibt es bei vielen Menschen, die ein paar Jahre so gearbeitet
       haben, eine sehr große Sehnsucht nach Planbarkeit, Vorhersehbarkeit und
       Sicherheit.
       
       In einem der Interviews sagt ein Computerspiele-Entwickler, dass er froh
       ist, nicht 40 Jahre lang denselben Weg ins immer gleiche Büro machen zu
       müssen. 
       
       In vielen Ihrer Gespräche wird sichtbar, dass die Freischaffenden ihre
       Flexibilität in der Lebensgestaltung als große Freiheit erleben. Da
       schwingt oft die Aussage mit: Ich bin froh, dass ich die Freiheit habe zu
       entscheiden, mit welchen Themen ich mich in meiner Arbeit beschäftige, wann
       ich arbeite und wann nicht. Dass niemand mir Vorschriften macht, niemand
       mich in meiner Bewegungsfreiheit eingrenzt und mir sagt: Heute ist Sonntag,
       und darum darfst du nicht arbeiten. Ich arbeite, wenn mir sonntags danach
       zumute ist. Dafür tue ich es dann eben am Montag nicht.
       
       Aber viele arbeiten doch sowohl am Sonntag als auch am Montag und nehmen
       sich eben nicht frei. 
       
       Das ist die Herausforderung: Wer frei arbeitet, muss sich selbst begrenzen.
       Und sich darauf einstellen, bei seiner Arbeit häufig allein zu sein.
       
       Hier gehen diesen Weg so viele wie nirgendwo sonst: Berlin hat bundesweit
       die höchste Selbstständigenquote. 
       
       Ja, und wir haben da jetzt mal ganz kurz durch das Schlüsselloch geguckt
       und die Welle gesehen, die auf uns zukommt: Die Zahl der Menschen, die
       allein unterwegs sind, um sich selbst und ihre Arbeitskraft zu verkaufen,
       wird in 20 Jahren noch weitaus höher liegen. Die Soloselbstständigkeit ist
       die Zukunft.
       
       Warum scheitern schon jetzt so viele mit ihrer Selbstständigkeit? 
       
       Wer dabei erfolgreich sein will, braucht eine Kombination aus
       Risikobereitschaft und sehr, sehr hoher Selbstdisziplin. Diese Kombination
       ist nicht jedem gegeben. Und obwohl sich unsere Arbeitswelt so stark
       verändert, bilden wir an den Schulen und Hochschulen nicht hinreichend
       dafür aus. Wir müssen dort ganz andere Fähigkeiten entwickeln: sich selbst
       zu organisieren, sich selbst gut zu verkaufen.
       
       Der Computerspiele-Entwickler kann sich sehr gut verkaufen: Er verdient
       10.000 Euro im Monat. Trotzdem scheitert er ständig daran, seine Zeit
       richtig einzuteilen, und fühlt sich zwischen Arbeit und Familie zerrieben. 
       
       Unabhängig von der Qualifikation braucht in dieser neuen Arbeitswelt jeder
       ein gewisses Maß an Selbstdisziplin. Wer das nicht gelernt hat oder nicht
       lernen will, der hat es schwer.
       
       Warum fällt es kreativ arbeitenden Menschen so schwer, um 18 Uhr Feierabend
       zu machen, ihr Büro zu verlassen und einfach abzuschalten? 
       
       Das funktioniert nicht, weil das Gehirn keine Maschine ist. Kreative Arbeit
       ist immer Arbeit, die fortgesetzt wird, auch wenn man Räume verlässt. Und
       viele haben ja nicht einmal mehr diese räumliche Grenze, sondern arbeiten
       von zu Hause aus. Wer sein Büro abschließen und ins Auto oder in die U-Bahn
       steigen muss, um nach Hause zu fahren, der lenkt seine Konzentration
       automatisch auf etwas anderes. Fällt das weg, wird es noch schwieriger.
       
       Was können Kreativarbeiter tun? 
       
       Sie müssen sich ablenken und ganz bewusst anderen Tätigkeiten nachgehen.
       Nur so können sie sich Erholung und Entspannung verschaffen.
       
       Da hat es ein Arbeiter leichter: Wenn Schicht ist, dann ist Schicht. Kaum
       einer war glücklicher mit seinem Job als der Industriemechaniker, mit dem
       wir gesprochen haben. Sind solche mechanischen Berufe denn besser geeignet,
       Zufriedenheit mit dem eigenen Tun herzustellen? 
       
       Nein, nicht per se! Ich wäre todunglücklich, wenn ich das machen müsste!
       Ich habe mal als Schülerin in einer Druckerei gejobbt, und mir war nach
       einer Woche klar: never ever! Um mit seiner Arbeit zufrieden zu sein,
       braucht es etwas anderes.
       
       Was denn? 
       
       Eine hohe Übereinstimmung zwischen der Persönlichkeit eines Menschen,
       seinen Stärken und Wertevorstellungen, und der Tätigkeit, der er nachgeht.
       Das fand ich an allen Interviews so interessant: Es gibt keinen
       systematischen Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau und der
       Zufriedenheit mit dem Job. Ihren Job wechseln wollen Leute entweder, weil
       sie unter unwürdigen Bedingungen arbeiten müssen, wie der Dönerschneider
       mit einem Stundenlohn von 3,75 Euro. Oder weil sie in einem Bereich
       arbeiten, der nicht zu dem passt, was sie als Persönlichkeit ausmacht. Wenn
       Menschen aber ihre Fähigkeiten ausleben können und irgendwie das Gefühl
       haben, das, was sie machen, sei sinnvoll, dann sind sie glücklich.
       
       Die Krankenschwester, die in der ambulanten Altenpflege arbeitet, hält das,
       was sie tut, zu Recht für sinnvoll. Trotzdem muss sie sich von anderen
       fragen lassen: „Machst du diesen Job freiwillig?“ 
       
       Jeder Beruf hat in unserer Welt einen Wert. Pflege brauchen alle, wenn sie
       irgendwann nicht mehr können. Pflegeberufe sind aber unglaublich schlecht
       bezahlt. Und über die Bezahlung definiert sich tatsächlich der soziale
       Status eines Berufs. Außerdem wissen viele Menschen, wie hart und
       anspruchsvoll dieser Beruf ist, welch hohen emotionalen Anforderungen er
       mit sich bringt und dass sie selbst das nie leisten könnten.
       
       Berlins Arbeitssenatorin Dilek Kolat (SPD) hat gerade erst mehr Anerkennung
       für Pflegeberufe gefordert. Ist ein solcher Appell nicht nur Schall und
       Rauch? 
       
       Das muss nicht sein. Politik kann mit Aufklärung, Werbung und aktiver
       Imagegestaltung viel Einfluss nehmen. Was haben wir in dieser Stadt für
       Kampagnen erlebt! Als bestes Beispiel für die Aufwertung einer Arbeit, die
       früher total abgewertet war, nenne ich meinen Studenten immer die Kampagne
       der Berliner Stadtreinigung für die Straßen- und Gehwegreiniger: Die ist
       witzig, humorvoll, total gut. Wenn ich heute meine Studenten nach dem Image
       der Stadtreinigung frage, dann sagen die: cool! Berlins Studenten haben
       solch ein Bild von Berlins Stadtreinigung: Das ist doch super!
       
       Ein gutes Image ändert aber nichts an der miesen Bezahlung eines
       Pflegejobs. 
       
       Natürlich nicht. Mit einem guten Image lässt sich viel erreichen, aber vor
       allem braucht es eine bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen.
       Doch häufig sind Pflegetätigkeiten einfach so körperlich und seelisch
       beanspruchend, dass es nicht sinnvoll ist, sein ganzes Erwerbsleben damit
       zu verbringen. Es gibt Berufe, die kann man nicht bis zur Rente machen. Da
       muss man entweder den Job oder die Tätigkeit innerhalb des Jobs wechseln.
       
       Ein Leben ohne Arbeit konnte sich keiner unserer Gesprächspartner wirklich
       vorstellen. 
       
       Das hat damit zu tun, dass Arbeit viele unterschiedliche Funktionen in der
       Gesellschaft hat: Sie bindet uns in den Wertekanon ein, sie macht uns zu
       einem Rädchen der ganzen Gesellschaft, sie gibt uns Struktur, vor allem
       zeitlich. Lesen Sie nur einmal Lebensberichte von Arbeitslosen, denen diese
       Zeitstruktur genommen wird! Und Arbeit sorgt eben auch dafür, dass wir
       sozial eingebunden sind. Eine Alternative zur Erwerbsarbeit haben wir
       bislang nicht wirklich gut hinbekommen.
       
       Obwohl es vielen mit ihrer Arbeit so geht wie dem Kita-Erzieher, den wir
       interviewt haben: Burn-out, Belastungsstörung, chronische Rückenschmerzen,
       Tinnitus, drei Monate Tagesklinik. 
       
       Ja, wobei ich an dessen Geschichte etwas sehr spannend fand: Der wollte ja
       raus aus seinem Job. Und dann bekam er plötzlich ein Jobangebot über die
       Arbeitsagentur …
       
       … und ist deshalb fürchterlich erschrocken … 
       
       … und trotzdem zu der neuen Kita hingegangen. Heute arbeitet er dort und
       ist total glücklich. Es mag vielleicht zynisch klingen, aber diesen Mann
       hat die Arbeitstätigkeit wohl wieder gesund gemacht. Er hat gelernt, anders
       mit sich umzugehen. Und er ist offensichtlich in einem Rahmen gelandet, der
       es zulässt, dass er es ein bisschen vorsichtiger angehen lässt, weniger
       Stunden arbeitet, guten Kontakt mit den Kindern und Eltern hat und sich
       gleich freinehmen kann, wenn es ihm nicht gut geht. Es ist ein gutes
       Zeichen, dass Leute nach solch einer Krise in ihrem Job verbleiben können,
       ohne sich so überfordern zu müssen wie vorher. Denn da gibt es etwas, das
       uns in dieser neuen Arbeitswelt abhandenkommt.
       
       Was? 
       
       Solidarität. Diese Entwicklung ist total ungut: Arbeitsverhältnisse, in
       denen jeder sein eigener Herr ist, sind entsolidarisierte
       Arbeitsverhältnisse. Für den Einzelnen wird es unglaublich schwierig zu
       erkennen, wofür er selbst und wofür die Gesellschaft verantwortlich ist.
       
       Alle unsere Interviewpartner haben wir gefragt, wo sie sich in zehn Jahren
       sehen – und alle haben optimistisch geantwortet. Wenn wir weiter gefragt
       haben, wer denn dafür verantwortlich ist, was in zehn Jahren sein wird,
       dann haben alle, meist ohne zu zögern, geantwortet: ich selbst. 
       
       Wir haben es verinnerlicht. Der Soziologe Alain Ehrenberg hat das perfekt
       beschrieben: Wir leben heute in einer Welt, in der die Verantwortung für
       das Scheitern in das Individuum zurückverlegt ist. Unsere Welt suggeriert
       uns, alles wäre möglich. Alles geht, du musst es nur anpacken. Und wenn du
       es nicht schaffst: Pech gehabt! Dann ist es eben dein Problem. Davon zeugen
       viele Krankheitsentwicklungen.
       
       Inwiefern? 
       
       In der Psychologie nennen wir das „interessierte Selbstgefährdung“: Gerade
       Selbstständige haben eine hohe Identifikation mit ihrem Job und wissen, sie
       sind eigenverantwortlich für das, was geschieht oder nicht geschieht. Aus
       dieser Eigenverantwortlichkeit heraus neigen viele dazu, sich selbst
       kontinuierlich zu überfordern, weil sie die Marktgesetze so weit
       verinnerlicht haben, dass ihre Psyche nach den Gesetzmäßigkeiten des
       Marktes tickt: Wenn ich jetzt die Chance auf ein Projekt habe, dann muss
       ich es jetzt durchziehen – ganz egal, was es mich kostet oder ob meine
       Konstitution das gerade zulässt. Denn ich weiß ja nicht, was in zwei oder
       drei Jahren ist. Gegen derartige Überforderung hilft auch ein bisschen Yoga
       nicht.
       
       Was hilft dann? 
       
       Zum einen müssen wir jungen Menschen schon in den Schulen Schutzmechanismen
       beibringen: „Du bist nicht schuld für das Scheitern in einer Welt, die nur
       so tut, als wäre alles möglich!“ Und zum anderen müssen wir
       gesamtgesellschaftlich nach neuen Organisationsformen für das Erleben von
       Solidarität suchen.
       
       Was ist mit den Gewerkschaften? 
       
       Gewerkschaften laborieren an einem Demografieproblem: Wer macht da für wen
       Politik, und wie alt sind diese Verantwortlichen? Junge Menschen fühlen
       sich davon oft nicht angesprochen, weil sie diesen atypischen
       Beschäftigungsverhältnissen noch mit so einem jugendlichen Gefühl der Kraft
       begegnen: Egal, wie widrig die Bedingungen sind, ich schaffe das. Das
       bedient diesen Freiheitswunsch, dieses Freiheitsempfinden. Und das ändert
       sich erst, wenn sie es einmal nicht allein geschafft haben, wenn sie
       schmerzliche Erfahrungen von existenziellem Ausmaß gemacht haben.
       
       Dann ist es womöglich schon zu spät. 
       
       Ich glaube, Solidarität entsteht heute auch schon auf vielen Wegen, ein Weg
       davon ist das Engagement in Gewerkschaften. Individuen suchen ihre sozialen
       Bezüge vielfältig, über Wohngemeinschaften, über gemeinsames Kochen, über
       die Liebe zum Buch.
       
       Können Sie ein Beispiel nennen? 
       
       Denken Sie an den Verleger, der sich im Börsenverein des Deutschen
       Buchhandels engagiert, zum Beispiel für die Leseförderung! Das ist
       vielleicht eine stärker inhaltlich interessengeleitete Form von
       Solidarität, aber auch Solidarität funktioniert einfach nicht mehr so wie
       noch vor 20 oder 30 Jahren. Und gerade Berlin hat da echte Chancen.
       
       Was meinen Sie? 
       
       Wir haben dieses Menschenspektrum, das hier arbeitet: jung, kreativ,
       tendenziell arm, kulturell total breit aufgestellt. Das bedeutet eine große
       Chance, hier eben andere Formen von Solidarität auszuprobieren. Wie unsere
       Hochschule hier mitten im Wedding, mitten in mitunter schwierigen sozialen
       Strukturen: Wir haben hier viele junge Studierende, die kommen direkt aus
       der Nachbarschaft. Wir sind eine Kiez-Hochschule. Das heißt, wir leisten
       einen Beitrag, die Bildungsstruktur in dieser Gegend positiv
       weiterzuentwickeln. Es erstaunt nicht sonderlich, wenn ich als
       Hochschullehrerin das jetzt sage: Aber inmitten all dieser Veränderungen
       der Arbeits-, inmitten all dieser Gentrifizierungsprozesse ist Bildung der
       wesentliche Beitrag zu einer positiven Zukunftsentwicklung. Nur wer Bildung
       hat, hat die Möglichkeit zur freien Wahl.
       
       10 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sebastian Puschner
       
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