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       # taz.de -- Deutscher Buchpreis: Ästhetik des Romans
       
       > Mit der Entscheidung der Jury für den Deutschen Buchpreis für Ursula
       > Krechel kann man zufrieden sein. Auch die Shortlist zeugte von Eigensinn
       > und Anspruch.
       
   IMG Bild: Verdient: Ursula Krechel in Preisträgerinnenpose.
       
       In der Woche vor der Verleihung des Deutschen Buchpreises wurden die
       Geschütze nochmal in Stellung gebracht. In Kommentaren ist nicht nur eifrig
       darüber spekuliert worden, wer von den sechs Kandidaten den Jackpot mit
       nach Hause nehmen würde. Es wurde durchaus beherzigt, was Walter Benjamin
       einst dem Kritiker attestierte: Er sei Stratege im Literaturkampf. Und kein
       zimperlicher, das sei dazugesagt.
       
       Es erschienen etliche Rezensionen – vernichtende im Fall des lange als
       Favoriten gehandelten Stephan Thome, hymnische zu Ursula Krechel, deren nun
       preisgekröntem Roman „Landgericht“ man am Samstag die Aufmacherseite der
       FAZ-Literaturbeilage widmete. Nicht nur in den amtlichen Feuilletons, auch
       in Internetforen oder auf Partys wurde eifrig über die Shortlist
       diskutiert. Und man beklagte beherzt, wer darauf fehlt und eigentlich nicht
       fehlen dürfte.
       
       Damit wäre Sinn und Zweck dieses Wettbewerbs um den „besten Roman“ des
       Jahres immerhin erfüllt: Es wird über Gegenwartsliteratur gestritten und
       zudem darüber, was sie überhaupt zu gegenwärtiger Literatur macht. Es wird
       um ästhetische Fragen gerungen, aber auch um Inhalte. Und manchmal kommen
       gar jene Titel pointiert in den Blick, die es nicht auf die Liste geschafft
       haben – gerade weil sie nicht nominiert worden sind.
       
       Die Shortlist immerhin war in diesem Jahr in vielerlei Hinsicht
       ungewöhnlich. Nicht nur, weil mit Wolfgang Herrndorf ein Autor unter den
       ersten sechs landete, der bereits im Frühjahr mit dem Leipziger Buchpreis
       ausgezeichnet worden war. Sondern außerdem drei Suhrkamp-Autoren – Clemens
       J. Setz, Stephan Thome und Ulf Erdmann Ziegler – im Rennen waren, die für
       einen insgesamt sehr starken Jahrgang des Berliner Verlags standen.
       
       ## Eigensinnige Auswahl
       
       Mit Ernst Augustin wurde zudem ein wunderbar sprachspielerisches, seit 50
       Jahren entstehendes Werk gewürdigt, das immer ein wenig ein Schattendasein
       gefristet hat. Und fast alle der nominierten Bücher verfolgen
       außergewöhnliche Ansätze, nähern sich der Wirklichkeit, Geschichte oder
       ihrer Zeit mit avancierten literarischen Techniken. Ob man für die
       Vorauswahl der Jury allerdings das Wort „Mut“ anführen muss, wie es
       Börsenvereins-Vorsteher Gottfried Honnefelder gleich mehrfach in seiner
       Rede tat, sei dahingestellt. Von Eigensinn zeugte diese Shortlist durchaus.
       
       Am Ende wurde dem Vernehmen nach die Entscheidung zwischen zwei Kandidaten
       ausgefochten – wieder einmal also nicht einstimmig. Mit der Wahl können
       aber trotzdem alle zufrieden sein: Ursula Krechels „Landgericht“ ist das
       Ergebnis einer jahrzehntelangen Recherchearbeit, aber mehr noch das
       Resultat einer reflektierten Auseinandersetzung mit den ästhetischen
       Möglichkeiten der Romanform. Zudem behandelt Krechel ein in der
       deutschsprachigen Literatur seltsam unterbelichtetes Thema: den Umgang mit
       Exilanten in Nachkriegsdeutschland (wenn auch der Themenkomplex
       „Vergangenheitsbewältigung“ ein ziemlicher Renner bei den Buchpreisjuroren
       der letzten Jahre ist).
       
       In ihrer Dankesrede sprach Ursula Krechel davon, dass dieses Buch eine
       „persönliche Wiedergutmachung“ einer ausgebliebenen Wiedergutmachung nach
       1945 sei. Zum ersten Mal in der achtjährigen Geschichte des Deutschen
       Buchpreises wurde nun eine ältere Autorin ausgezeichnet, die – vor allem
       als Lyrikerin und Essayistin – bereits auf ein noch zu entdeckendes
       Lebenswerk zurückblicken kann. Und vielleicht darf man es auch als ein
       Zeichen verstehen, dass nach 2010 bereits zum zweiten Mal der Kleinverlag
       Jung und Jung eine Buchpreisträgerin stellt: Wieder mussten die großen,
       renommierten Verlagshäuser in die Röhre gucken. Das spricht für die
       konsequente, literarisch anspruchsvolle Arbeit, die Jochen Jung in Salzburg
       leistet.
       
       Die Spekulationen hören, wie der den einmal wieder durch Abwesenheit
       glänzenden Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann vertretende
       Kulturdezernent Felix Semmelroth in seiner Begrüßung im Frankfurter Römer
       ausführte, nun zwar auf. Aber nicht die Diskussionen. Die könnten im besten
       Falle in den kommenden Frankfurter Buchmessetagen erst richtig anfangen.
       Und all jene Bücher und Autoren einbeziehen, die es nicht auf die Liste
       geschafft hatten, aber ebenso würdige Preisträger gewesen wären.
       
       9 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Rüdenauer
       
       ## TAGS
       
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