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       # taz.de -- taz-Serie Schillerkiez: Eine Selbsterfahrung: Ein Versuch, sich heimisch zu fühlen
       
       > Können Alteingesessene und die vielen jungen Zuzügler zueinanderfinden?
       > Ja - aber nur wenn alle lernen, das Viertel zu gestalten, sagt
       > taz-Volontärin Karen Grass.
       
   IMG Bild: "Freunde fanden's echt nett".
       
       Regungslos sahen sie uns beim Hochschleppen der Umzugskisten zu. Mit ihren
       Cay-Tees saßen die drei älteren Herren vor dem türkischen Kulturverein
       Mercan, direkt neben meiner neuen Wohnung. Manchmal lächelten sie ein
       wenig, und ich fühlte mich direkt schon ein wenig heimisch an diesem Tag im
       vergangenen Sommer, an dem ich meine Studenten-Wohngemeinschaft in der
       Dortmunder Nordstadt für ein Jahr gegen eine WG in der Leinestraße in
       Neukölln eintauschte. Die Nordstadt ist ebenfalls voll von solchen
       Kulturvereinen, das kannte ich schon.
       
       Als wir alles hochgetragen hatten, waren die drei Herren verschwunden. Die
       nun sichtbare Anschrift „Zutritt nur für Mercan-Mitglieder“ an den Fenstern
       des Vereinslokals dämpfte das heimelige Gefühl ein wenig.
       
       ## Dämpfer zum Einzug
       
       Aber der wahre Dämpfer am ersten Tag im Schillerkiez sollte erst noch
       kommen. Nachdem wir alles aufgebaut und verstaut hatten, wollten mein
       Freund und ich den Dönerladen ums Eck ausprobieren: gleich mal in die
       Hermannstraße eintauchen. Doch unsere Portemonnaies waren verschwunden –
       aus der Wohnung geklaut, während wir im Akkord die Kisten durch die offen
       stehende Tür hochgetragen hatten.
       
       Auf der Polizeiwache konnte der Beamte nur schwer an sich halten: „Lassen
       Sie mich raten: Sie sind wegen der niedrigen Mieten nach Nord-Neukölln
       gekommen. Herzlich willkommen im kriminellsten Teil Berlins.“
       
       Die meisten KommilitonInnen in Dortmund und meine Eltern in Offenbach am
       Main waren vor dem Umzug entspannt gewesen: „Neukölln, das soll sich ja ein
       bisschen gewandelt haben, hab ich gehört“, lautete oft die Reaktion auf
       meine Ankündigung, in diesem Viertel Berlins untergekommen zu sein. Nach
       dem Motto: Da können wir das Mädel ruhig hinziehen lassen.
       
       Mein Vater hatte sogar extra den Spiegel-Artikel zur Gentrifizierung im
       Bezirk ausgeschnitten, in dem böse Miethaie vorkamen, Mietsteigerungen und
       sozial schwächer gestellte Mieter, die in die Großsiedlung Gropiusstadt
       wegziehen müssen. Das böse G-Wort also.
       
       Ich fragte mich daraufhin, ob auch ich ein Teil sein würde dieser
       Entwicklung. Und was das dann genau hieße. Sprich: Fühle ich mich da
       willkommen?
       
       Zumindest Letzteres musste ich nach dem Umzugsdiebstahl erst mal verneinen.
       Doch nach etwa einer Woche traute ich mich wieder vom direkten Heimweg
       entlang der Hermannstraße weg, hinein in den Schillerkiez, in die
       Weisestraße, die Schillerpromenade, die Lichtenrader Straße. Und ja, auch
       in die Bars, die das gesamte Jahr über wie Pilze aus dem Boden schossen.
       Ich mag sie nach wie vor, ob Frollein Langner, Heisenberg oder Engels.
       
       Und ich war häufig dort, wenn auch nicht immer drin. Denn vor allem in den
       wärmeren Monaten machten diese Hipster-Lokale, die mit ihren
       zusammengewürfelten Möbeln äußerst individuell daherkamen, die Straße zu
       ihrem Terrain. Auch mit der Brause vom Späti nebenan, als Zaungast am
       Straßenrand, fühlte ich mich mittendrin. So konnte man oft beim
       Abendspaziergang nur noch von Menschentraube zu Menschentraube stolpern, so
       voll waren die Bürgersteige mit Bier schlürfenden Gästen. Freunde, die zu
       Besuch waren, fanden es „echt nett“.
       
       Nicht alle Bewohner des Schillerkiezes sehen die Lokale so wohlwollend, wie
       die Farbbeutel-Attacken auf die Schillerbar im Frühsommer zeigten. Dass die
       Kneipe damit so souverän umging und aus den Farbresten herzliche
       Botschaften ritzte, fand ich sympathisch. Und dennoch: Irgendwie fühlte
       sich jedes Biermischgetränk auf einer der süßen Gartenbänke, inmitten der
       spanischen und englischen Wortfetzen, Leggings und Röhrenjeans nach einer
       kleinen Sünde an. Zumal ich mit den Graffiti „Wehrt euch“, „Keine Macht den
       Miethaien“ und all den Plakaten des kritischen Mieterbundes immer ein
       bisschen sympathisierte. Bei den Bar-Besuchen fühlte ich mich wie ein
       Baustein einer Welt, an der nur manche Bewohner des Kiezes teilhaben
       dürfen.
       
       Noch viel drängender als die Frage, wie sich das Quartier verändert, finde
       ich die Frage, wie sich die Menschen aus den verschiedenen Welten begegnen
       können. Denn es geht ja bei der Debatte um Gentrifizierung nicht nur um
       Mietpreise. Sondern auch darum, wer davon profitiert, wenn sich im Kiez
       etwas tut, und wer an der Veränderung mitwirken kann.
       
       Vor der Freiheit atmenden Kulisse des Tempelhofer Feldes lässt sich das
       exemplarisch durchspielen. Das Urban Gardening Areal im Osten des Parks
       zeigt, wie die verschiedenen Menschen im Schillerkiez zusammenkommen
       können. Auf den gefühlt tausend Streifzügen um Salatköpfe, Sonnenblumen und
       Bienenstöcke grinsten mir während des Jahres StudentInnen, türkische
       Seniorenpärchen und junge deutsche Eltern gleichermaßen entgegen. Alle
       halten sich hier auf, zwischen den Beeten des Allmende-Kontors.
       
       Und wer gärtnert, wer nimmt sich die Freifläche aktiv? „Anfangs waren das
       schon viele neu Zugezogene, viele Studenten. Das lag auch an einem
       Engagement der FU Berlin“, sagt Kerstin Stelmacher vom Allmende-Kontor.
       „Mittlerweile geht das aber querbeet. Das Feld hat die Interkulturalität
       und soziale Mischung des Schillerkiezes angenommen.“ Die Belegung der Beete
       sei gut durchmischt, findet Stelmacher. Besonders freue sie sich über die
       Frauengruppen, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, die vormittags
       gemeinsam gärtnern und frühstücken.
       
       Seit August vergangenen Jahres hat sich das Areal flächenmäßig verdoppelt,
       einige Holzgerüste für die 300 Beete wirken mittlerweile ziemlich
       professionell. Vielleicht sind sie genau wie die vielen jungen Bars und
       Ateliers im Kiez neue Bestandteile der Umgebung, die Neubewohner des Kiezes
       schaffen und innerhalb derer die Alteingesessenen lernen müssen, zu leben
       und mitzugestalten.
       
       Möglicherweise ist das auch zu naiv. Möglicherweise findet der alte
       Schillerkiez nie einen Platz in den neuen Strukturen; Und gut möglich, dass
       der ältere Nachbar aus der Leinestraße 50, der ganztägig rauchend am
       Fenster lehnt, niemals eine der „netten Bars“ betreten wird. Aber
       vielleicht klappt es an einigen Stellen, wie in der neuen Holz-Kohle-Bar in
       der Leinestraße. Dort mischt sich das Publikum: Mal sitzen mehr
       StudentInnen im warmen Schummerlicht, mal mehr ältere Herren.
       
       ## Dialog im Kiez
       
       Dass die unterschiedlichen Leute Lust haben, sich zu treffen, zeigt der
       erfolgreiche interkulturelle Dialog im Kiez. Beim Tag der offenen Moschee
       ist der Hof der Sehitlik-Gemeinde proppenvoll. Und auch beim offenen
       Opferfest in der Warthestraße erklären die jungen Gemeindemitglieder ihre
       Religion einmal von Grund auf. Ich tauche mit anderen deutschen
       Kiez-Bewohnern ein und muss mich nicht dumm oder fremd fühlen. „Ich finde
       das angenehm. Es ist nicht, als solle mir etwas aufgezwungen werden.“ So
       beschreibt Theologiestudentin Martha Rosenow, die ich beim Opferfest bei
       Manti-Nudeltaschen und türkischer Musik treffe, die Atmosphäre. „Es geht
       darum, sich anzunähern, nicht darum, gleich zu werden“, findet Rosenow.
       
       Ich bin jedoch nicht sicher, ob der Schillerkiez das schaffen kann. Dass
       sich die verschiedenen Bewohner einander annähern, ohne die gleiche
       Lebensweise zu teilen. Aber ich hoffe darauf, dass die Leute einen Teil
       ihrer Kraft darauf verwenden.
       
       Bei der Wohnungsabnahme Ende August bekomme ich zu spüren, in welch
       begehrtem Objekt ich da ein Jahr lang gelebt habe. Mit einer Weißleuchte
       kontrolliert der Hausmeister jeden Winkel, bemängelt die kleinste Macke. In
       diesem dreckigen, ungepflegten Haus mit dem ranzigen Treppenhaus, dem
       verwilderten, verwachsenen Garten und den schmierigen Hauseingängen
       bewachen sie ihre Wohnungen wie kleine Kronjuwelen. Haie. Der nächste
       Mieter wird mehr zahlen als meine Mitbewohnerin und ich: Laut Daten des
       Immobilienportals Immoscout 24 sind die Mieten in den Straßen rund um meine
       alte Wohnung innerhalb eines Jahres um rund 10 Prozent gestiegen.
       
       Ich habe an dieser Entwicklung mitgearbeitet, sicher. Das ließ sich nicht
       vermeiden. Aber wenn ich wiederkomme, klopfe ich beim Kulturverein Mercan
       an und frage, ob ich auf einen Tee reinkommen darf. Das hatte ich mich noch
       nicht getraut. Und den rauchenden Herrn aus der Leinestraße 50 lade ich
       endlich auf ein Bier ein – gerne in einer Szenebar.
       
       9 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karen Grass
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
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