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       # taz.de -- Italiener auf dem Oktoberfest: „Ein, zwei, drei, zuppa!“
       
       > Wenn Radios italienisch klingen, ist auf der Wiesn Italieneralarm.
       > Massimiliano und seine Freunde finden ihren Spaß – trotz strenger
       > Saufregeln.
       
   IMG Bild: Das lässt nicht mehr los: Oktoberfest in München.
       
       MÜNCHEN taz | Marcellos große Stunde schlägt um zwei Uhr mittags. Der
       32-Jährige will bald heiraten, eine Frau, die im Moment auf seinem T-Shirt
       als brünftiger Stier abgebildet ist und eine Kuh bespringt, die sein
       Gesicht trägt. „Un anello per domarlo“ steht darunter, „ein Ring, sie zu
       knechten“. Das Shirt zieht Marcello jetzt aus.
       
       Seiner Jeans hat er sich schon auf der Toilette entledigt, was bleibt, ist
       ein Ganzkörperanzug aus hautfarbenem Baumwollstoff. Ergeben stellt sich der
       Buchhalter aus Mailand in den Kreis seiner grölenden Freunde. Er weiß, was
       jetzt kommt. Unter lautem Gebrüll stülpen ihm die anderen eine rosafarbene
       Eichel aus Gummi übers Gesicht.
       
       Eigentlich soll er nun eine Runde durch die vollbesetzten Bankreihen gehen.
       Aber fünfzehn Minuten später fliegt der italienische Bräutigam in spé mit
       samt dem Peniskostüm aus dem Zelt. Es ist „Italienerwochenende“ auf dem
       Münchner Oktoberfest und die Ordner im Hofbräuzelt verstehen keinen Spaß.
       
       250.000 italienische Gäste haben die „Wiesn“, wie die MüncherInnen das
       16-tägige Traditionsbesäufnis liebevoll nennen, nach offizieller Statistik
       im letzten Jahr besucht. Mit rund 19 Prozent stellen sie seit Jahren die
       größte Gruppe ausländischer Gäste.
       
       Warum die Campingwagen aus dem Süden ausgerechnet zum mittleren von drei
       Wochenenden über die Alpen rollen, weiß niemand so genau. Das Gerücht, es
       liege an einem italienischen Feiertag, lässt sich nicht verifizieren.
       „Keine Ahnung. Das war Zufall“, sagt auch Massimiliano, der mit Marcello
       zum Feiern gekommen ist. „Italienerwochenende? Noch nie gehört.“
       
       ## Carabinieri aus Südtirol
       
       Unter den Münchnern ist diese Tradition jedoch etabliert. Die bayerischen
       Radiosender geben ihre Verkehrsnachrichten dann auch auf Italienisch durch.
       Die Abendzeitung wirbt auf ihrer Titelseite mit „tutte le informazioni
       sull’Oktoberfest“. Und die örtliche Polizei holt sich Unterstützung von
       italienischen Kollegen. Seit 2005 sind auch immer einige Carabinieri aus
       Südtirol auf Streife, um zur Not für ihre Landsleute vermitteln zu können.
       Marcello und seine neunzehn Freunde aus Mailand haben das nicht nötig. Sie
       sind vorbildlich organisiert und trotz des vielen Biers, das sie bis zum
       Ende des Abends getrunken haben werden, ziemlich gut drauf.
       
       Verteilt auf fünf Autos sind die zwanzig Freunde aus Mailand, die sich zum
       Teil noch aus Pfadfindertagen kennen, in der Nacht losgefahren. Knapp 600
       Kilometer und sechs Stunden später haben sie ihr Ziel erreicht: Einen
       Campingplatz in München-Thalkirchen, auf dem in den zwei Wochen Wiesnzeit
       Ausnahmezustand herrscht.
       
       Während aus den Zelteingängen um sie herum reichlich zerknautschte
       Gesichter in den Nieselregen blinzeln und die Jungs aus Mailand mit den
       Zeltstangen kämpfen, geht Paulo, des zukünftigen Bräutigams kleiner Bruder,
       Bier holen. Im Gegensatz zu einigen seiner Freunde war er noch nie auf dem
       Oktoberfest. Was er erwartet, weiß er nicht so genau. „Ich will einfach
       sehen, wie die Leute feiern“, sagt der 28-Jährige und überlegt. „Ein
       Abendteuer bis Montagmittag.“
       
       ## Im März reserviert
       
       Als das Wiesnabenteuer dann beginnt, ist Paulo nicht mehr dabei. „Der hat
       gestern zu viel getrunken“, sagt Alessandro und zuckt lachend mit den
       Schultern. Am Vormittag gegen halb elf betreten die Mailänder das
       Hofbräuzelt.
       
       Die langen orangen Biertische sind bereits gut gefüllt und das
       Stimmengewirr aus hunderten von Kehlen erzeugt einen beachtlichen
       Geräuschpegel. Schon im März haben die Freunde hier zwei Tische auf der
       Empore reserviert. Dass man sonst nur schwer einen Platz bekommt, hat sich
       auch bis nach Italien herumgesprochen.
       
       Am Tag zuvor waren die Jungs nur kurz auf der Wiesn. „Marcello, der
       Bräutigam, wollte sich die Stadt anschauen“, erzählt Massimiliano, der in
       Mailand mit zwei Freunden ein Restaurant betreibt. „Also waren wir zuerst
       auf dem Viktualienmarkt und dann nur noch kurz auf dem Oktoberfest.“ Eine
       wenig erfreuliche Erfahrung im Regen: „Die Zelte waren alle schon zu.“
       Statt wie die anderen schlafen zu gehen, habe Paulo jedoch noch lange auf
       dem Campingplatz gefeiert. „No Controll“, sagt Massimiliano und winkt ab.
       Dass er nun nicht dabei ist, scheint niemanden zu stören.
       
       ## „Bevo, bevo, bevooooo!“
       
       Auch dass die Band noch nicht zu spielen begonnen hat, ist den Italienern
       egal. Sie haben ihr eigenes Liedgut mitgebracht: Bevo, bevo, bevooooo,
       ubriaco e son’ felice anche se poi vomito“ – „Ich trinke, ich trinke, ich
       trinkeeee, bin betrunken und glücklich, auch wenn ich kotzen muss“, grölen
       sie sehr zum Leidwesen der in Tracht gekleideten Autochthonen und den als
       solche verkleideten Touristen um sie herum.
       
       Dass sie dabei auch noch im Durchgang vor den beiden Tischen stehen, um
       sich besser unterhalten zu können, statt wie alle anderen, der frühen
       Stunde gemäß, gesittet auf den Bänken sitzen zu bleiben, macht sie bei der
       Bedienung nicht gerade beliebt. Die beiden zierlichen Albanerinnen im
       hellblauen Dirndl immerhin, die schon nach kurzer Zeit die vorbestellten
       Brotzeitplatten auftischen, sprechen Italienisch. Dem konstanten
       Biernachschub steht also nichts im Weg.
       
       „Ich war 2005 schon mal auf dem Oktoberfest“, erzählt Massimiliano. „Damals
       habe ich acht Maß getrunken.“ Diesen Rekord will der 30-Jährige brechen.
       Bei jedem „Prosit der Gemütlichkeit“, das die Band im Viertelstundentakt
       anstimmt, stemmen die Jungs deshalb fleißig die Krüge. Der Text kommt ihnen
       bereits flüssig über die Lippen.
       
       Beim „Oans, zwoa, drei, G’suffa!“ wird es schwieriger. Es kursieren zwei
       Varianten, die den Kern der Sache beide nicht treffen: „Ein, zwei, drei,
       chupa!“ (Eins, zwei, drei, Blasen!) lautet die erste, von Gelächter
       begleitet. Im Laufe des Tages setzte sich ein züchtiges „Ein, zwei, drei,
       zuppa!“ (Eins, zwei, drei, Suppe!) durch.
       
       ## Nicht so laut grölen
       
       Auch sonst scheint die überschwängliche italienische Mentalität der
       neunzehn Mailänder im Urlaubsmodus mit den strengen Regeln, die das seit
       Jahrhunderten tradierte bayerische Massenbesäufnis in enge Bahnen lenken,
       wenig kompatibel. Immer wieder kommt ein finster dreinblickender Ordner zum
       Tisch und bellt die Italiener an. „Nicht so laut grölen, die anderen Gäste
       haben sich beschwert!“ „Nicht über die Holzabsperrung neben den Tischen
       klettern!“ „Kein Bier verschütten!“
       
       Neunzehn betroffene italienische Gesichter und ein paar beschwichtigende
       Gesten, dann geht die Party weiter. Nach gut zwei Stunden und ungefähr der
       dritten Maß sind die Jungs aus Mailand die ersten weit und breit, die auf
       den Bänken stehen.
       
       Als auch die ersten gebratenen Wiesnhendl den Ort ihrer Bestimmung in den
       italienischen Mägen gefunden haben, ist es Zeit für Marcellos phallische
       Junggesellenverkleidung – und für den ersten Platzverweis. Was konkret
       passiert ist, lässt sich anschließend nicht mehr so genau rekonstruieren.
       Ein Verstoß gegen das Vermummungsverbot? Erregung öffentlichen Ärgernisses?
       
       Der Ordner bleibt eine Erklärung schuldig, klemmt sich den verdutzten
       Marcello unter den Arm und setzt ihn vor der Zelttüre wieder ab. Die Jungs
       schnappen sich seine Jeans und das T-Shirt und spurten hinterher. In
       normaler Kleidung darf der zukünftige Bräutigam wieder rein. „Oans, zwoa,
       drei, zuppa!“ und la festa della birra kann weitergehen.
       
       ## Eine Maß Mineralwasser
       
       Um kurz nach vier dann müssen die Jungs ihre Tische auf der Empore für die
       Abendbelegung räumen und bestellen die vierte Maß des Tages im Biergarten
       vor dem Zelt. Alessandro macht dort als Erster schlapp. Während die anderen
       weitersingen, hat er den Kopf mit der Wange auf eine Maß Mineralwasser
       abgestützt und kämpft sichtlich derangiert gegen seinen rebellierenden
       Magen an. Massimiliano, Gianluca und Gabriele dagegen sind noch fit und
       wollen die „giostre“ (Fahrgeschäfte) ausprobieren. Eine Stunde später haben
       sich die Freunde endgültig verloren.
       
       Erst kurz vor elf und unzählige Telefonate später, die in erster Linie aus
       „Cosa?“ (Was?) und „Dove sei?“ (Wo bist du?) bestehen, finden sich alle auf
       den Bierbänken im Augustinerzelt wieder. Dort ist die Stimmung längst auf
       dem Höhepunkt. Mittlerweile sind auch die Autochthonen auf die Bänke
       gestiegen und schunkeln bierselig von einem Bein aufs andere.
       
       Das gesamte Zelt grölt, wenn die Band zum gefühlt hundertsten Mal den
       Evergreen aller Wiesnhits „Heeeeeey Baby, uh, ah, I wanna knoooooow if you
       beeee my girl?“ anstimmt. Und auch wenn die Freunde aus Mailand an diesem
       Abend nur bei der sechsten Maß angekommen sind und die Kontakte mit den
       Einheimischen vor allem aus Zurechtweisungen bestanden, sind sich alle
       einig: „Oktoberfest, que festa!“ – „Die Wiesn, was für ein Fest!“
       
       4 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marlene Halser
       
       ## TAGS
       
   DIR Liebeserklärung
       
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