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       # taz.de -- Staatliche Schule mit Waldorfpädagogik: Grundschule mit Astralleib
       
       > In Hamburg sollen erstmals Waldorflehrer an einer staatlichen Schule
       > unterrichten. Kritiker verweisen auf die esoterischen Wurzeln der
       > Pädagogik.
       
   IMG Bild: Bedrohung oder Bereicherung? Therapeuthische Farbkammer nach Rudolf Steiner.
       
       BERLIN taz | Eigentlich ist es ein geschickter Schachzug: Bildungsbewusste
       Eltern wollten im Hamburger Stadtteil eine Privatschule für ihre Kinder
       gründen. Doch statt die Genehmigung zu erteilen machte die Schulbehörde
       einen anderen Vorschlag: Die Eltern könnten ihre pädagogischen Ideen doch
       auch an der offentlichen Grundschule im Viertel umsetzen – damit sich die
       soziale Spaltung zwischen den Schulen in dem einstigen Arbeiterstadtteil
       nicht verschärft.
       
       Die Idee, Bildungsghettos auf die Art zu verhindern, hat zweifelsohne ihren
       Chame – aber auch einen seltsamen Beigeschmack: Denn die Schule, die der
       Elterninitiative vorschwebte und die nun unter das staatliche Dach zieht,
       soll nach dem Waldorf-Konzept arbeiten. Ab 2014 sollen Waldorflehrer und
       staatlich ausgebildeten Pädagogen an der Grundschule gemeinsam
       unterrichten. Die Waldorfbewegung wird häufig der Reformpädagogik
       zugerechnet. Kritiker weisen aber immer wieder auf ihren esoterischen
       Hintergrund hin.
       
       Heiner Ullrich, Professor für Erziehungswissenschaften an der Uni Mainz,
       verweist darauf, dass 90 Prozent der Waldorf-Pädagogen eine Befragung
       zufolge fest in der Anthroposophie Rudolf Steiners verhaftet sind: „Ein so
       hohes Maß an weltanschaulicher Geschlossenheit gibt es nicht einmal mehr an
       katholischen Privatschulen“, sagt Ullrich.
       
       Steiner glaube beispielsweise an Reinkarnation und ging davon aus, dass
       Kinder sich in Sieben-Jahres-Rhythmen entwickeln und mit der Pubertät einen
       farbig-leuchtenden Astralleib als Hülle um ihren Körper gebären –
       Erkenntnisse, die Steiner mittels Hellsicht gewonnen haben will und die der
       modernen Erziehungswissenschaft widersprechen.
       
       ## Musisch-künstlerische Ausrichtung im Mittelpunkt
       
       Ursula Caberta, einst Sektenbeauftragte und jetzt Jugendschutzreferentin,
       kritisiert das Vorhaben ihrer Senatskollegen: „Was da passiert, ist völlig
       unmöglich. Da wird eine staatliche Schule für die abstrusen Lehren von
       Rudolf Steiner geöffnet.“ Die Schulbehörde hält dagegen: „Wir wollen
       Elemente der Waldorfpädagogik integrieren, die allseits akzeptiert sind“,
       sagt Peter Albrecht, Sprecher der Schulbehörde. Im Mittelpunkt des
       Konzepts, an dem noch gearbeitet wird, soll die musisch-künstlerische
       Ausrichtung stehen. Die Anthroposophie Steiners käme nicht an die Schule.
       
       Die Waldorf-Bewegung sieht sich nicht erst seit der Hamburger Kooperation
       im Aufwind: Der Bund der Freier Waldorfschulen legt vor einigen Tagen
       erstmalig eine Studie über die Schulzufriedenheit der Waldorfschüler vor,
       die der Düsseldorfer Erziehungswissenschaftsprofessor Heiner Barz mit
       seinen Kollegen durchführte
       
       Demnach haben Waldorfschüler mehr Freude am Lernen und bewerten die
       Beziehung zu ihren Lehrern positiver als Kinder, die staatliche Schulen
       besuchen. Lob bekam die Studie von höchster Seite der Bildungsforschung:
       Andreas Schleicher, Pisa-Koordinator der OECD, beglückwünscht die Autoren
       zu ihren Ergebnissen: „Vieles von dem, was Waldorfschulen machen, wird
       Mainstream.“
       
       ## Blauäugiges Lob
       
       Dabei sieht Waldorf-Kritiker Ullrich von der Uni Mainz ernste methodische
       Schwächen der Untersuchung: Die Angaben von Waldorfschülern könnten nicht
       so ohne weiteres mit denen von Regelschülern verglichen werden, weil die
       soziale Zusammensetzung der Schulen und die Motivation der Eltern jeweils
       anders sind. „Eine Waldorf-Schule wird bewusst gewählt, darum haben Eltern
       und Schüler automatisch eine innigere Bindung zu ihr.“ Ein Phänomen, das
       man auch an anderen Privatschulen beobachtet.
       
       Dass es wirklich das spezifische Waldorfkonzept ist, das die Schüler
       zufriedener macht, und wenn ja, was genau an daran – diesen Nachweis bleibt
       die Studie aus Ullrichs Sicht schuldig. Vor allem sagt sie nichts darüber
       aus, wie gut die Schüler lernen: „Herr Schleicher lobt hier sehr blauäugig
       die Waldorf-Pädagogik. Eigentlich müsste er dafür eintreten, dass sich die
       Waldorf-Schulen dem Pisa-Test unterwerfen.“
       
       An den Erfolg des Hamburger Schulversuchs glaubt Ullrich indes nicht: „Am
       Anfang mag es vielleicht ein paar Berührungspunkte geben“, sagt er. „Aber
       sobald die Waldorfkollegen bei der Schülerbeurteilung von astralischen
       Kräften oder von Reinkarnation sprechen, werden die staatlichen Lehrer wohl
       sagen: bitte nicht!“
       
       1 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernd Kramer
       
       ## TAGS
       
   DIR Reformpädagogik
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   DIR Familie
   DIR Pubertät
       
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