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       # taz.de -- Interview mit Aktivistin von Pussy Riot: „Jeder Akt eine Mutprobe“
       
       > Am Montag findet das Berufungsverfahren gegen drei Musikerinnen von Pussy
       > Riot statt. Im Untergrund organisiert Schljapa die Band.
       
   IMG Bild: Hartes Urteil: Drei Mitglieder von Pussy Riot wurden zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt.
       
       taz: Schljapa, am Montag geht Pussy Riot in die Berufung. Wird das Gericht
       die zweijährige Lagerhaftstrafe für Ihre Mitstreiterinnen aussetzen? 
       
       Schljapa: Ich bin zu 99 Prozent überzeugt, dass das Gericht vom
       erstinstanzlichen Urteil nicht abrückt. Nadja, Katja und Maria werden wohl
       ins Lager müssen. Das System kann sich nicht anders verhalten. Denn
       inzwischen sind die Strukturen des Geheimdienstes auch die Grundlage
       unseres Staates. Die „KGBisierung“ Russlands ist in vollem Gang.
       
       Wie geht es den Gefangenen? 
       
       Wir kommunizieren miteinander, wenn auch nicht unter vier Augen. Ich habe
       den Eindruck, dass sie sich innerlich schon auf das Lager vorbereitet
       haben. Bei Nadja Tolokonnikowa bin ich mir ganz sicher, weil sie ein
       ungewöhnlich mutiger Mensch ist, der sich vor nichts fürchtet. Durch kleine
       Aktionen lassen wir sie wissen, dass wir mit ihnen sind. Als Katja
       Geburtstag hatte, trugen wir vor dem Gefängnis ihre Gedichte vor und
       zündeten Feuerwerkskörper an. Natürlich tranken wir auch Champagner.
       
       Wie lange sind Sie schon dabei? 
       
       Ich habe Pussy Riot vor etwas mehr als einem Jahr mitgegründet. Mit den
       anderen Frauen bin ich seit drei Jahren befreundet. Vorher hatten wir schon
       viel zusammen gemacht. Das ergab sich so, weil wir in denselben
       Künstlerkreisen verkehren. Die Gründung fand auf einer Veranstaltung der
       Opposition in einem Erholungsheim vor Moskau statt. Da waren auch die
       anderen Köpfe der Opposition – Garri Kasparow, Alexei Nawalny und Boris
       Nemzow – anwesend.
       
       Wie groß ist die Band? 
       
       Wir sind zehn Aktivistinnen und zwanzig im Umfeld, die uns in allem
       unterstützen. Die eine ist für den Ton zuständig, eine andere komponiert,
       wieder andere halten einfach bei einer Aktion ihre Haut hin und warten mit
       laufendem Motor im Auto.
       
       Es heißt, fast alle Mitglieder hätten sich ins Ausland abgesetzt … 
       
       Das stimmt so nicht. Zwei sind zurzeit außerhalb Russlands und bereiten
       etwas vor. Ich war auch vor Kurzem auf der Documenta in Kassel, hatte aber
       nicht die Absicht, zu fliehen.
       
       Wie bereiten Sie Aktionen vor? 
       
       Erst mal halten wir Ausschau nach den Schwachstellen des Systems: Wo lässt
       sich eine Aktion besonders wirksam machen? Danach wägen wir alle gemeinsam
       das Für und Wider ab. Katja ist ein sehr musischer Mensch. Sie versteht
       auch viel von der inneren Logik solcher Aktionen und davon, wie sie
       angelegt sein müssen. Sie entwirft die Strategie und kümmert sch ums
       Taktische. Das macht uns so sicher, weshalb wir auch von unserer Sache
       überzeugt sind, wenn wir eine Aktion angehen.
       
       Legen Sie als Aktionskünstlerinnen Wert auf den Feinschliff? 
       
       Die ersten Lieder von Pussy Riot klangen noch, als würde jemand mit einem
       Schraubenzieher im Kopf rumstochern. Ich liebe Mozart und spiele Geige,
       lerne es zumindest. Singen kann ich leider nicht. Es sind aber auch
       bildende Künstlerinnen und Journalistinnen unter uns.
       
       Die Einsätze in der Christi-Erlöser-Kirche, der Metro und vor der
       Kremlmauer auf dem Roten Platz waren immer spektakulär. Muss jede Aktion
       die vorangegangene übertreffen? 
       
       Jeder Akt muss einer Mutprobe gleichen, um sich von der Angst vor dem Staat
       zu befreien. So war es in der Kirche. Auch in der Metro weiß man vorher:
       Wenn ich auf ein Gerüst klettere, legt mir die Polizei Handschellen an,
       wenn ich runtersteige. Auf dem Roten Platz sind die Sicherheitskräfte –
       egal ob in Zivil oder in Uniform – innerhalb von 15 Sekunden zur Stelle.
       Das haben wir genau geprüft.
       
       Die letzte Aktion am Tag der Urteilsverkündung ist fehlgeschlagen. Was war
       da geplant? 
       
       Wir hatten wochenlang trainiert und einen Kurs in Industriealpinismus
       absolviert. Solche Einsätze erfordern viel Technik und Hilfsmittel. Daher
       sind sie ziemlich teuer, und das Geld haben wir eigentlich gar nicht. Es
       ließe sich billiger machen, wäre dann aber riskanter. Wir wollten uns vom
       Dach des Gerichts abseilen und bei der Urteilsverkündung in die Fenster
       lugen. Die Sache ging schief, weil der Sicherheitsapparat das zu früh
       spitzgekriegt hatte. Das war ein Fehler in unserem Kommunikationssystem.
       
       Haben Sie keine Angst, aufzufliegen? Ohne Maske sind Sie auch nicht
       unbekannt? 
       
       Ich muss aufpassen, die Gefahr besteht. In letzter Zeit werde ich häufiger
       angehalten, meine Papiere werden überprüft. Ich darf denen auf keinen Fall
       in die Hände fallen.
       
       Wie geht es mit Pussy Riot weiter, wenn die drei ins Lager müssen? Die
       Frauen sind weltweit bekannt. Nach Ihrer Philosophie der
       „Gesichtslosigkeit“ sind sie für weitere Aktionen verbrannt … 
       
       Das stimmt, sie sind aber alle talentiert und werden etwas anderes machen.
       Sie leiden darunter, dass sie ihre Anonymität verloren haben. Unsere
       Philosophie ist antikapitalistisch. Der Kapitalismus basiert auf dem
       Prinzip „Kaufen und verkaufen“. Das geht nur, wenn du ein Gesicht hast und
       es zeigst. Ein Mensch ohne Antlitz tritt nicht als Händler auf. Das
       kapitalistische System duldet Anonymität nicht.
       
       Wer sein Gesicht zeigt, hat es eigentlich verloren? Tragen Sie daher
       Masken? 
       
       Ja, die Masken sind das Produkt einer künstlerischen Idee und unseres
       permanenten Mangels. Wir sind bettelarm, weswegen sich auch einige Frauen
       durch Mundraub ernährt haben, bevor sie im Gefängnis landeten. Ein Mensch
       ohne Gesicht bewegt sich in einem anderen Diskurs.
       
       Ist man als Linker nur glaubwürdig, wenn man arm ist? Sind Sie alle
       antikapitalistisch? 
       
       Mein Metier ist die visuelle Kunst. Ich fühle mich den
       Anarchoindividualisten am meisten verbunden, die die Autonomie des
       Individuums hervorheben, die Gewalt ablehnen und die statt auf Revolution
       auf Aufklärung der Bevölkerung setzen.
       
       Die Idee ist eher liberal und steht in Opposition zum kollektiven
       Anarchismus. Die russischen Vorreiter sind im Gulag gelandet oder gleich
       erschossen worden … 
       
       Auch der Progressivismus ist ein Konzept, das mir zusagt. Das Individuum
       steht im Mittelpunkt und die Gesellschaft ist von einer tiefen
       Menschlichkeit im Umgang miteinander durchdrungen. Ich glaube, dieses
       Maximum an Humanität lässt sich in Norwegen beobachten, wo Häftlinge nicht
       in Käfige weggesperrt werden und ihnen nicht die Würde genommen wird. Bei
       uns läuft es ganz anders. Unsere Gefangenen erhalten selbst nötige
       Medikamente nicht. Nadja bekam nicht mal Kopfschmerztabletten.
       
       Ist Westeuropa ein Vorbild? 
       
       Dort geht es viel menschlicher zu als bei uns im Ultrakonservatismus.
       Zugegeben. Für Menschen mit Idealen, Sehnsüchten und grenzensprengenden
       Ideen ist Europa trotz allem zu eng.
       
       Wiederholen Sie damit nicht den ewigen Vorwurf, den die russische
       Intelligenz seit 200 Jahren macht? Anders formuliert: Lieber auf dem
       Schafott als im Bett sterben? 
       
       Nun ja. Ich erkenne die Institution Staat in keiner ihrer
       Erscheinungsformen an. Gegen starre Formen habe ich etwas. Ich möchte auch
       nicht auf einem Friedhof begraben werden. Meine Freunde sollen meinen
       Leichnam in einen Fluss werfen. Ich bin Atheistin und glaube an die
       Materie.
       
       Ihre künstlerischen Vorbilder? 
       
       Ich bin eine Vertreterin des Aktionismus und Situationismus. Wenn ich es
       könnte, würde ich jeden verpflichten, etwas Nützliches und Sinnvolles im
       Leben zu tun. Vor allem die verrückten orthodoxen Gläubigen, die im Prozess
       auftraten. Sie tun nichts, sind einfach Parasiten.
       
       Ist das Leben für Sie selbst das Kunstwerk wie bei den französischen
       Situationisten der 1960er Jahre, den Kommunikationsguerilleros? Ist
       Präsident Wladimir Putin mit seinen Performances nicht auch ein
       Situationist an der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik? 
       
       Der Kranichflug neulich, wo sich Putin als Leitvogel verkleidet hatte und
       in einem Fluggerät saß, kommt dem schon sehr nahe. Er antwortet Pussy Riot
       im gleichen Metier. Ich glaube aber nicht, dass er seine Rolle als
       Aktionskünstler begriffen hat. Würde er in diesem Geist weitermachen, wäre
       es eine geniale Antwort auf die Herausforderung der Opposition und den
       „Marsch der Millionen“.
       
       Was kommt nach Putin? 
       
       Ein anderer Diktator.
       
       Was sind Sie nun eigentlich wirklich? 
       
       Eine aktive Pessimistin.
       
       28 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
       ## TAGS
       
   DIR Pussy Riot
       
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