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       # taz.de -- Aktionsplan gegen Analphabetismus: Ahmad Temiztürk will lernen
       
       > Um das Potenzial der Analphabeten nicht zu vergeben, will die Regierung
       > einen nationalen Aktionsplan starten. Doch die Wirtschaft schweigt das
       > Thema lieber tot.
       
   IMG Bild: Wer Schreiben und Lesen lernen will, hat es im Alter nicht leicht.
       
       Ahmad Temiztürk* hat sie vollbracht, seine eigene kleine Meisterleistung.
       Er hat seine beiden Töchter überredet, zum Sommerhalbjahr von der
       Realschule aufs Gymnasium zu wechseln. Die Lehrer haben es so empfohlen,
       sie wollen die beiden Einser-Kandidatinnen nicht länger mit ihrem
       Unterricht unterfordern.
       
       „Meine Kinder werden es einmal besser haben als ich“, sagt Temiztürk. Der
       Hamburger schreibt die Erfolgsgeschichte seiner Töchter auf, Aspekt für
       Aspekt, jede Woche eine halbe Seite im Schulheft. Er hat es für den
       Grundbildungskurs Deutsch angelegt, den er besucht. Dort schreibt er – für
       seine eigene Zukunft und die Zukunft seiner Kinder. Genauer: er lernt, sie
       aufzuschreiben.
       
       Seine bisherige Lese- und Schreibkompetenz würde man im Fachjargon als
       funktionalen Analphabetismus bezeichnen: Die Betroffenen können einzelne
       Worte und Sätze lesen, doch ihre Kenntnisse reichen nicht aus, um an der
       schriftbasierten Gesellschaft normal teilzuhaben. Analphabeten machen etwa
       10 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung aus.
       
       Die meisten sind gebürtige Deutsche mit einigen Sprüngen in der Biografie –
       so auch Temiztürk. Er hat türkische Eltern, ist zwischen den Sprachen
       aufgewachsen. Auf sein mündliches Deutsch hatte das keine Auswirkungen.
       Doch beim Schreiben und Lesen hapert es, in beiden Sprachen. Deshalb kam
       ein schriftbasierter Job bisher nie infrage, über Aufstieg dachte Temiztürk
       aus Scham gar nicht nach.
       
       Stattdessen arbeitet der 43-Jährige als Warenumpacker im Lager der
       Hamburger Drogeriemarktkette Budnikowsky. „Ich habe mich extra auf einen
       festen Job bei Budni beworben, weil ich am Grundbildungskurs teilnehmen
       wollte“, sagt er. Dass er diese Möglichkeit hat, ist keineswegs
       selbstverständlich.
       
       ## Am Arbeitsplatz lernen bleibt Seltenheit
       
       Während Integrationskurse und Angebote wie Deutsch als Zweitsprache
       mittlerweile anerkannt und auch innerhalb vieler Unternehmen etabliert
       sind, bleiben Grundbildungsangebote am Arbeitsplatz eine Seltenheit. Viele
       Unternehmen sehen das Thema Grundbildung als imageschädigend an – und
       verschließen die Augen vor der Realität.
       
       Einer Studie des Instituts für lebenslanges Lernen an der Universität
       Hamburg von 2011 zufolge sind in Deutschland 7,5 Millionen Menschen im
       erwerbsfähigen Alter funktionale Analphabeten. Sie sind nicht in der Lage,
       auch nur kurze zusammenhängende Texte zu lesen oder zu schreiben.
       
       Weitere 14,5 Millionen Menschen, so schätzen die Forscher, beherrschen
       selbst bei gebräuchlichem Wortschatz nur fehlerhafte Schriftsprache.
       Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) hat deshalb vergangenes Jahr
       einen nationalen Grundbildungspakt angekündigt, zu dem sie Bund, Länder und
       Akteure wie Wirtschaftsverbände an einen Tisch holen wollte. Stichwort:
       Drohender Fachkräftemangel.
       
       ## 20 Millionen Euro Projektfördermittel
       
       Passiert ist bisher wenig. Nicht nur, weil sich Bund und Länder lediglich
       auf 20 Millionen Euro Projektfördermittel bis 2015 einigen konnten, während
       neue Alphabetisierungskurse nicht in Sicht sind, sondern auch, weil der
       Deutsche Industrie- und Handelskammertag sein Kooperationsangebot vorerst
       zurückziehen musste.
       
       „Wir erreichen die Unternehmen nicht wie gedacht, sie wollen mit dem Thema
       nichts zu tun haben“, sagt Günter Lambertz, Leiter des Bildungsbereichs
       beim DIHK. „Bei uns gibt es so etwas nicht“, ist ein Satz, den Lambertz in
       Betrieben öfter über Analphabetismus hörte.
       
       Knapp 60 Prozent der funktionalen Analphabeten haben einen Job, die meisten
       von ihnen sind Un- oder Angelernte im produzierenden Gewerbe. Auch Ahmad
       Temiztürks Arbeitsalltag sieht eher wenig anspruchsvoll aus. In dem
       dreistöckigen Hochregallager von Budnikowsky im Gewerbegebiet
       Hamburg-Allermöhe läuft bei einer Palette von 15.000 Produkten zwar
       hochkomplexe Logistik ab – die Lagerarbeitskräfte haben damit allerdings
       nichts zu tun.
       
       Für sie geht alles automatisch; wo sie Waren entnehmen sollen, zeigen ihnen
       farbige Leuchtsignale. „Doch diese einfachen Tätigkeiten nehmen rapide ab“,
       sagt DIHK-Mann Lambertz. Er rechnet damit, dass vor allem mittelständische
       Baubetriebe und Gastronomen im Zuge des technischen Fortschritts Probleme
       bekommen werden, wenn sie ihre Arbeitskräfte nicht zum Lernen befähigen.
       
       Temiztürk will lernen, weil er weiß, dass die Fluktuation im Lager unter
       den Un- und Angelernten hoch ist: „Ich kann nicht absehen, wie lange ich
       hier bleibe. Und wenn ich irgendwann mal einen anderen Job machen will,
       muss ich doch schreiben können“, sagt Temiztürk. Das hat er schon damals
       gemerkt, als er von einer Zeitarbeitsfirma, die mit Budnikowsky
       kooperierte, zu seinem jetzigen Arbeitgeber wechselte.
       
       Seine Schichtleiterin kannte ihn schon. Bei einem fremden Unternehmen wäre
       er sofort aus der Auswahl herausgeflogen – er bekam die Bewerbung achtmal
       zur Korrektur zurück. „Ich war total verzweifelt, weil ich immer wieder so
       viele Fehler gemacht habe“, sagt Temiztürk rückblickend. Am Ende diktierte
       er einem Bekannten die Bewerbung.
       
       Damit er das künftig nicht mehr machen muss, arbeitet er nun hart im
       unternehmensinternen Grundbildungskurs. Temiztürk hat eine Mindmap mit den
       verschiedenen Geschichten gemalt, die er über seine Kinder schreiben will:
       „Gespräch mit den Lehrern, Schulwechsel, Abitur, Ausbildung/Studium,
       besserer Verdienst, besseres Leben, Sohn zum Lernen überreden.“ Heute ist
       der Aufsatz „Besseres Leben“ dran. Daneben stehen Übungen zu
       Doppelkonsonanten und S-Lauten, sie sind Temiztürk diesmal am schwersten
       gefallen.
       
       Die Drogeriekette Budnikowsky ist im Jahr 2010 über die Volkshochschule
       Hamburg in die Grundbildungsarbeit eingestiegen, gemeinsam mit anderen
       Unternehmen wie etwa der Stadtreinigung Hamburg. Diese bot damals ebenfalls
       Grundbildungskurse für ihre Angestellten an. Nach Informationen eines
       beteiligten Organisators durchaus, „weil Umstrukturierungsprozesse im
       Unternehmen die Mitarbeiter vor neue Herausforderungen stellten“. Die
       Mitarbeiter sollten also befähigt werden, sich fortzubilden und mit den
       Veränderungen des Unternehmens mitzuhalten.
       
       ## Keine Notwendigkeit bei der Müllabfuhr
       
       Doch eine Anfrage an die Stadtreinigung, ob es weiterhin Angebote gebe,
       beantwortet deren Pressesprecher abschlägig: „Damit sind wir durch. Für
       Alphabetisierungsprogramme gibt es, entgegen klischeehaften Vorurteilen,
       bei der Müllabfuhr keine Notwendigkeit. Für einen Besuch besteht daher
       weder ein Anlass noch ein Hintergrund, zumal wir Vorurteile nicht auch noch
       fördern wollen.“
       
       Für Peter Hubertus, Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung,
       ist das skandalös – aber nicht ungewöhnlich. „Das zeugt von einem
       grundsätzlichen Unverständnis für das Phänomen Grundbildungsbedarf.“
       Schließlich handele es sich nicht um eine unheilbare Krankheit.
       
       Im Gegensatz zu Großbritannien und Dänemark, wo Arbeitskräfte für Kurse zu
       Lese- und Schreibkompetenz gezielt freigestellt werden, heiße es
       hierzulande oft: Wer nicht lesen kann, ist dumm. Wie Lambertz glaubt auch
       Hubertus, dass sich Unternehmen in Zeiten des demografischen Wandels nicht
       mehr lange leisten können, dieses Potenzial zu vergeben.
       
       Im Prinzip hat selbst der Bund die Problematik erkannt. Für die Zeit bis
       2015 hat das Bundesbildungsministerium ein Programm aufgelegt, das
       Forschungsprojekte zur arbeitsplatzorientierten Grundbildung fördert. Die
       Unternehmen als der Akteur, der am nächsten an den Betroffenen dran ist,
       rücken in den Fokus.
       
       ## Lesen und Schreiben am Arbeitsplatz
       
       Peter Hubertus vom Alphabetisierungsverband reicht das nicht. Er fordert,
       dass der Bund nicht nur forschen und Projekte fördern, sondern über die
       Bundesagentur für Arbeit auch Alphabetisierungskurse schaffen soll. So
       könne die BA Menschen ohne Arbeit und mit Grundbildungsbedarf für den
       Arbeitsmarkt fit machen. Schließlich habe Lesen und Schreiben nicht nur mit
       Allgemeinbildung zu tun, für die die Länder zuständig wären. „Man braucht
       es doch vor allem am Arbeitsplatz!“, sagt Hubertus.
       
       Ahmad Temiztürk braucht die neuen Fähigkeiten für mehr. „Früher habe ich
       immer nur eine halbe Buchseite am Tag geschafft, es hat mich so
       angestrengt, dass ich nur wenig Lust zum Lesen hatte“, sagt er. Jetzt lese
       er ganze Bücher. Vor allem für historische Romane kann er sich begeistern.
       Als Nächstes steht ein Sachbuch über den Bau der Pyramiden auf seiner
       Agenda. „Die haben damals Stück für Stück aufgebaut, unglaublich, was am
       Ende dabei herauskam“, sagt Temiztürk. „Ich will wissen, wie sie diese
       Meisterleistung vollbracht haben!“
       
       * Name von der Redaktion geändert
       
       27 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karen Grass
       
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