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       # taz.de -- Film „The Deep Blue Sea“: Liebe in leidenschaftslosen Zeiten
       
       > In „The Deep Blue Sea“ wird Rachel Weisz zum Zentrum eines
       > Frauenmelodrams. Der Film ist ein überstilisiertes Trauerspiel der
       > Repression.
       
   IMG Bild: Die formidable Rachel Weisz: Szene aus „The Deep Blue Sea“.
       
       Der Traum vom alten Kino, als man noch mit analogem Film arbeitete und
       ganze Welten im Studio nachbauen ließ, ist auch 2012, im Jahr der Insolvenz
       von Kodak, noch intakt. Terence Davies ist einer, der sich diesem Traum
       sehr konsequent verschrieben hat. In seinen Filmen unterlässt er den
       Versuch, „zeitgemäß“ zu arbeiten – und erzielt gerade dadurch seine so
       unmittelbare Wirkung.
       
       Davies, der zu den bedeutenden Gegenwartsregisseuren Großbritanniens zählt,
       fantasiert sich mit jedem neuen Film in die Jahrzehnte seiner Jugend zurück
       – einzige Ausnahme: die amerikanische Fin-de-Siècle-Tragödie „The House of
       Mirth“ (2000) nach Edith Wharton.
       
       Sein jüngster Film, „The Deep Blue Sea“, sieht nun so aus, als wollte
       Davies die Aura jenes Films noch einmal heraufbeschwören, aber diesmal
       unter den Vorzeichen des Persönlichen: mit einem Frauenmelodram aus dem
       England der Nachkriegszeit, einem Trauerspiel der Repression und des
       Moralterrors.
       
       ## Gefangen und Gefallen
       
       Wie ein Stummfilm setzt „The Deep Blue Sea“ ein, als reine Bildergeschichte
       in orchestrierten Bildern, als Symphonie der Blicke und Gesichter, der
       Räume und der Stoffe. Ein Abschiedsbrief der Heldin, gelesen aus dem Off,
       setzt die verhängnisvollen Ereignisse in Gang. Eine junge Frau (Rachel
       Weisz) will sterben, aber sie scheitert, und so muss sie das prolongierte
       Grauen ihrer Existenz erleben, jede absehbare Etappe auf dem Weg in ihr
       privates Fiasko durchleiden.
       
       Hester Collyer ist eine Gefangene – zunächst im Inneren einer Vernunftehe
       mit einem deutlich älteren Richter (Simon Russell Beale), dann aber auch in
       den kleinbürgerlichen Verhältnissen ihres Zusammenlebens mit einem jungen
       Mann (Tom Hiddleston), der seine Vergangenheit als Pilot bei der Royal Air
       Force mit der Gegenwart nicht vereinbaren kann. Davies zeigt den kurzen
       Rausch ihrer Liebe gleich eingangs: die zarte Anbahnung, den ersten Kuss,
       dann die schwindelerregende Drehbewegung der Kamera über den nackten,
       ineinander verkeilten Leibern.
       
       Doch die Ekstase währt nicht lange. „The Deep Blue Sea“ zeichnet das
       quälende Ende zweier Beziehungen im kriegsversehrten London um 1950 auf.
       Der Titel geht übrigens auf eine populäre Redewendung zurück, die einen
       aussichtslosen Zustand beschreibt.
       
       The Deep Blue Sea: das ist die eine Seite des Dilemmas, der Teufel ist die
       andere. In regelrechte Meerestiefen taucht die tragische Heldin dieses
       Films dementsprechend mutig ab, um den sicheren Absturz in die Hölle
       abzuwenden, dreimal springt sie gleichsam ins kalte Wasser – mit der Flucht
       aus der Zwangsjacke ihrer Ehe, mit ihrem Versuch, sich das Leben zu nehmen,
       und mit dem Vorsatz, nach der zweiten Trennung allein zurechtzukommen.
       
       ## Eine übung in Selbstwiederholung
       
       Terence Davies, wenige Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Liverpool
       geboren, hat mit „The Deep Blue Sea“ ein 1952 veröffentlichtes Bühnendrama
       von Terence Rattigan adaptiert. In dem Willen, sich die Denk- und
       Lebensweisen von damals noch einmal zu vergegenwärtigen, trägt Davies
       durchaus dick auf: Indem er Samuel Barbers hochemotionalem Violinkonzert
       breiten Raum überlässt, gibt er seinem Film eine Gefühlsbreite, die der
       filigranen Inszenierung fast zu widersprechen scheint.
       
       „The Deep Blue Sea“ ist im Signaturstil des Terence Davies gehalten, von
       den singenden Pub-Besuchern bis zum stets beweglichen, elegant über die
       Stoffe und Texturen streifenden Blick des deutschen Kameramanns Florian
       Hoffmeister. Man wird jedoch, bei aller Schönheit, das Gefühl nicht los,
       dass sich hier ein großer Regisseur in Selbstwiederholung übt. Es sind vor
       allem jene Szenen, in denen die abweisende Mutter des Richters auftritt,
       die allzu augenfällig ins theatrale Kunstgewerbe zielen. Bei einem
       Abendessen rät sie der verachteten Schwiegertochter entschieden davon ab,
       sich an die Leidenschaft zu halten – es sei viel besser und sicherer, diese
       durch „einen zurückhaltenden Enthusiasmus“ zu ersetzen.
       
       Eine Stärke des Films ist allerdings die Ambivalenz der drei Hauptfiguren:
       Während Hester ihren Widerstand immer wieder mit einer paradoxen Strategie
       der Unterordnung übt, geben sich auch die beiden Männer als vielschichtige
       Figuren zu erkennen.
       
       ## Sieben Langfilme nur
       
       Davies’ Karriere ist selbst eine Geschichte der Befreiung: Nach zehn Jahren
       als Büroangestellter fasste er eine Ausbildung an der Schauspielschule und
       seine ersten Filme ins Auge. Obwohl er seit bald 40 Jahren als Filmemacher
       aktiv ist, hat er erst sieben abendfüllende Werke zustande gebracht. In
       seiner frühen Kurzfilm-Sammlung „The Terence Davies Trilogy“ (1976–1983)
       rechnete er mit der Qual seiner Adoleszenz, mit Katholizismus und
       Homophobie ab.
       
       Nach den wieder autobiografischen Meisterstücken „Distant Voices, Still
       Lives“ (1988) und „Am Ende eines langen Tages“ (1992), als die Welt gerade
       geneigt war, diesen scheuen Regisseur für so gut wie unfehlbar zu halten,
       kam er ins Straucheln: „Die Neonbibel“ (1995) war Davies’ erster Film nach
       fremder Vorlage, eine amerikanische Erzählung, die zwar wieder in den
       1940er Jahren spielte, sich aber seltsam unpersönlich anfühlte.
       
       Fünf Jahre später demonstrierte Davies mit „The House of Mirth“ (2000) aber
       noch einmal, was er in Hochform leisten konnte. Danach herrschte acht Jahre
       lang Schweigen, da die britische Filmförderung ihm keinen weiteren Film
       finanzieren wollte. Erst 2008 tauchte Davies mit dem sarkastischen
       Liverpool-Essay „Of Time and the City“ wieder auf. Man darf somit darauf
       hoffen, dass „The Deep Blue Sea“ dereinst als respektable Zwischenstufe
       gesehen werden wird – als nötiger erster Schritt in ein epochales
       Alterswerk.
       
       ## „The Deep Blue Sea“. Regie: Terence Davies. Mit Rachel Weisz, Tom
       Hiddleston u. a. USA/Großbritannien 2011, 98 Min.
       
       26 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Grissemann
       
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