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       # taz.de -- Debatte Arm gegen Reich: Die Überflüssigen
       
       > Mit dem US-Wahlkampf kommt mal wieder ans Licht, wie viele Reiche
       > eigentlich ticken. Schaffen sie die Armen ab? Oder siegt das
       > „Eat-the-rich“-Prekariat?
       
   IMG Bild: Hier wohnt vermutlich die „überflüssige Bevölkerung“.
       
       Die Berichterstattung über den Wahlkampf in den USA beschäftigt sich meist
       mit theatralischen und rhetorischen Aspekten. Gelegentlich aber, eher
       zufällig, fast beiläufig, wird etwas Wesentliches sichtbar, das einen
       schaudern lässt. So auch letzte Woche, als wir dank der Recherche der
       Zeitschrift Mother Jones erfuhren, was Mitt Romney bei einem
       Wahlkampfdinner hinter verschlossenen Türen, quasi ohne Maulkorb, so von
       sich gibt.
       
       Tagein, tagaus verkündet er, wie jeder Kandidat, dass er allen Amerikanern
       helfen möchte. Ihr Wohl liege ihm am Herzen, eine wachsende Zahl Menschen
       sei in den letzten vier Jahren arm geworden und von Lebensmittelmarken
       abhängig (inzwischen 47 Millionen, etwa ein Sechstel der Bevölkerung).
       Meist schließt der gläubige Mormone mit dem Satz: „This is a campaign about
       helping people who need help.“
       
       In Florida aber, vor extrem vermögenden Anhängern, [1][äußerte sich Romney
       dezidiert anders]: 47 Prozent der Bevölkerung seien Parasiten, die vom
       Staat abhingen, keine Steuern zahlten, Ansprüche stellten und sich zudem
       noch als Opfer des Systems begriffen. Seine Stimme triefte vor Verachtung.
       
       ## Romneys Augenwischerei
       
       Kaum wurde dieser ehrliche Ausrutscher öffentlich, erklärte Romney in einer
       eilends einberufenen Pressekonferenz mit zuckriger Stimme, er wolle für all
       diese Menschen Jobs schaffen, die ihnen ein würdigeres Leben ermöglichten.
       Das ist allerdings lediglich Augenwischerei.
       
       Als international erfolgreicher Geschäftemacher weiß er, dass es angesichts
       fortschreitender Globalisierung und Automatisierung unmöglich sein wird,
       für den allergrößten Teil dieser Menschen Arbeit zu schaffen (der von ihm
       gegründete Bain Capital Equity Fund schließt dieser Tage den profitablen
       Automobilzulieferer Sensada in Freeport, Illinois, um die Produktion nach
       China zu verlegen). Mit anderen Worten: diese Menschen sind überflüssig.
       
       Einige Tage später sprach ich mit einer Investmentbankerin, die mich
       süffisant fragte, wie ich denn meine sozialen und ökologischen
       Überzeugungen mit der Tatsache in Einklang bringe, dass es zu viele
       Menschen auf der Erde gebe. In Kreisen der sogenannten Elite wird seit
       einiger Zeit ein posthumanitärer Mischmasch aus neomalthusianischen und
       neoliberalen Positionen zusammengerührt.
       
       Schon 1996 erklärte CNN-Gründer Ted Turner der Zeitschrift Audubon: „Eine
       Bevölkerung weltweit von 250 bis 300 Millionen Menschen, ein Rückgang um 95
       Prozent, wäre ideal.“ Im Alter gnädiger geworden, bekannte er sich 2008
       beim Philadelphia World Affairs Council zu dem Ziel, die Weltbevölkerung
       auf 2 Milliarden zu verringern. Sein Freund John Malone, der ihn 2011 als
       größter privater Landbesitzer der USA ablöste, raunte neulich: „Ich bin
       eher geneigt zuzugeben, dass der Mensch nicht verschwinden wird.“
       
       Auch Bill Gates propagiert eine drastische Reduktion der Bevölkerungszahl.
       In einer [2][Rede aus dem Jahre 2010] schätzt er, dass durch „neue
       Impfstoffe und bessere Gesundheitsversorgung vor allem im Bereich der
       Fortpflanzung“ die bald 9 Milliarden zählende Weltbevölkerung um zwischen
       10 bis 15 Prozent verringert werden könnte.
       
       ## Bill Gates’ Fantasien
       
       Das ist eine erstaunliche Aussage, da bekanntlich nicht Polioimpfungen und
       geringere Kindersterblichkeit, sondern eine bessere Ausbildung der Frauen
       (siehe das Beispiel des indischen Bundesstaats Kerala) sowie weit
       verbreiteter Wohlstand (siehe das Beispiel Deutschland) das
       Bevölkerungswachstum gegen null reduzieren, gewiss aber nicht derart massiv
       rückgängig machen können.
       
       Neomalthusianer haben nicht nur in den USA Hochkonjunktur. Die russische
       Zeitschrift Ekologitscheski Postmodern (Ökologische Postmoderne)
       publizierte vor einigen Jahren einen Artikel, der unter anderem eine
       Tabelle für das Jahr 2007 über „Länder der Welt mit überflüssiger
       Bevölkerung“ enthielt. Es wurden 107 Staaten aufgeführt, in denen über 80
       Prozent der Weltbevölkerung beheimatet ist, 5.470.982.000 Seelen, bei einer
       „biologisch zulässigen Bevölkerung“ von 1.922.121.200.
       
       Die Überbevölkerung betrug demnach 3.548.868.800. Besonders großen
       Überschuss haben angeblich China (860 Millionen) und Indien (938
       Millionen).
       
       ## Die Kellner filmen zurück
       
       Das wird Sparpakete der besonderen Art erfordern. Auffällig, dass in der
       Tabelle weder Russland noch die USA aufscheinen. Wahrscheinlich ist es
       inopportun, die Überflüssigen bei sich selbst zu suchen. So wie auch jene,
       die eine freiwillige Beschränkung auf ein Kind fordern, selbst eifrig für
       Nachwuchs sorgen: Ted Turner hat fünf, Bill Gates drei Kinder.
       
       Überflüssig ist derjenige, dessen Arbeitskraft nicht in den
       kapitalistischen Kreisläufen profitabel genutzt werden kann. Ein
       Subsistenz- oder Kleinbauer ist somit extrem überflüssig, auch wenn er um
       ein Vielfaches nachhaltiger lebt als ein Großstädter. Ginge es tatsächlich
       um ökologische Prioritäten, würde man die Überflüssigen zuallererst bei
       Superreichen wie Romney ausfindig machen, deren persönlicher Verbrauch dem
       ganzer afrikanischer Städte entspricht.
       
       Mit anderen Worten: Je materiell erfolgreicher jemand im herrschenden
       System ist, desto ökologisch destruktiver. Das ist nicht evident, weil seit
       je ein weißer Mann in der eigenen Auffassung tausend braune, gelbe oder
       schwarze Männer wert ist; in der Masse machen stets nur die anderen unseren
       Planeten kaputt.
       
       Wahrscheinlich hat einer der Kellner die Romney-Rede in Florida
       mitgeschnitten und an die Öffentlichkeit gebracht. Das ist eine weitere
       Hybris dieser patriarchalisch-individualistischen Position: Das Prekariat,
       aus dessen Reihen sich die billigen Arbeitskräfte rekrutieren, die den
       Erfolgreichen und Wohlhabenden die Schuhe putzen und die Getränke
       servieren, könnte es eines Tages leid sein, nur die Brosamen aufzuklauben,
       die von den reich gedeckten Tischen hinabfallen.
       
       „Eat the Rich“ hieß ein wunderbarer englischer Film aus den achtziger
       Jahren, eine satirische Antwort auf die Politik Margaret Thatchers. Wer wen
       am Ende frisst, wird sich noch erweisen.
       
       26 Sep 2012
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Republikaner-vor-US-Wahl/!101900/
   DIR [2] http://www.youtube.com/watch?v=KHKPnW9s9OU&%20NR=1&feature=endscreen
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ilija Trojanow
       
       ## TAGS
       
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   DIR Ilija Trojanow
   DIR Schwerpunkt USA unter Trump
       
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