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       # taz.de -- Philosophin Susan Neiman: „Obama braucht den Druck von links“
       
       > Die US-Philosophin Susan Neiman über Präsident Obama, die bevorstehenden
       > Wahlen in den USA und warum Reformen Leben retten.
       
   IMG Bild: Kein Messias, aber ein Reformer: Präsident Obama auf dem Flughafen der Air Force One im September.
       
       sonntaz: Frau Neiman, wo waren Sie am 24. Juli 2008? 
       
       Susan Neiman: Ich war an diesem Tag vor der Berliner Siegessäule. Ich
       berichtete damals für deutsche und amerikanische Medien über Barack Obamas
       Auftritt. Ich war mittendrin.
       
       Können Sie sich noch an Obamas Rede erinnern? 
       
       Sehr gut sogar. Es war eine extrem gute Rede. Damals entstand der Mythos,
       die Europäer würden Obama vergöttern. Tatsächlich waren viele der Besucher
       US-Bürger, die in Europa leben. Und extra gekommen waren, um diese andere
       Stimme aus Amerika zu feiern. Die haben ihn nicht mit verklärten Augen
       gesehen.
       
       Vom Messias zur grauen Maus des Pragmatismus. Wie ist dieser Wandel zu
       erklären? 
       
       Das greift zu kurz. Ich habe mich immer über die europäischen Medien
       geärgert, die das Bild der Amerikaner zeichneten, die dem Messias Obama mit
       Yes-we-can-Gesängen unkritisch zu Füßen lägen. In der Tat gab es diese
       extrem kreative Kampagne, den demokratischsten Wahlkampf, den die USA je
       gesehen haben. Obama hat selbst immer betont, nicht alle Probleme lösen zu
       können. Uns allen war klar, es geht nicht um einen, der alles retten muss.
       Wir selbst müssen weitermachen. Die Medien haben mit der Messias-Idee
       gespielt. Nicht die Menschen an der Basis.
       
       Mit Obama drückte sich auch so etwas wie eine Hoffnung auf die Überwindung
       des Bösen in der Politik aus. Verkörpert in Gestalten wie Bush, Cheney und
       Rumsfeld. Aber auch Osama bin Laden. War das eine überzogene Erwartung? 
       
       Es gab eine andere Erwartung, die überzogen war. Dass diesmal die Vernunft
       die Oberhand behalten würde. Obama ist mit dem Motto in den Wahlkampf
       gezogen, dass die Amerikaner mehr eint als trennt. Aber die Polarisierung
       in den USA ist noch schlimmer geworden. Das hat mit dem bis heute nicht
       beendeten Rassismus zu tun. Und in dem Moment, an dem Obama Präsident
       wurde, setzten die härteste Blockade in der Geschichte der USA ein. Bis zur
       Inkaufnahme der Staatspleite. Und trotzdem hat er einiges geschafft.
       
       Sind Sie persönlich enttäuscht von Obama? 
       
       Er hat extrem problematische Sachen gemacht: Leute zu Wirtschaftsberatern,
       die verantwortlich für die Finanzkrise waren. Oder die Drohnenpolitik.
       Trotzdem bin ich nicht enttäuscht. Sein Gesetz für gleiche
       Arbeitsbedingungen für Frauen und Männer ist eine Leistung. Vor vier Jahren
       war es auch noch undenkbar, sich für die Homo-Ehe einzusetzen. Extrem
       wichtig war seine Gesundheitsreform, auch wenn sie nicht so radikal
       ausfiel, wie ich mir das gewünscht hätte. Trotzdem ist sie ein Meilenstein
       in der Geschichte der Vereinigten Staaten.
       
       Unter europäischen Intellektuellen grassiert die Unzufriedenheit mit Obama.
       Haben Sie Verständnis für diese Haltung? 
       
       Wer messianische Erwartungen hatte, wird enttäuscht sein. Die hatte ich
       aber nicht. Ich habe nicht auf einen Messias gehofft. Ich habe auch nicht
       auf die Überwindung des Bösen gehofft.
       
       Glauben Sie wirklich, seine schwierige Lage jetzt hängt nur mit der
       Obstruktionspolitik der republikanischen Opposition zusammen? 
       
       Nicht nur. Aber die Schwächen Obamas verweisen auf die Bewegung zurück.
       Franklin Delano Roosevelt hat zu den Forderungen der Gewerkschaftsführer
       einmal gesagt: Geht auf die Straße und zwingt mich dazu. So ist es auch
       heute: Wenn wir eine bestimmte Politik haben wollen, müssen wir
       dranbleiben. Dass Obama auf diesen Druck reagiert, hat man an der
       Occupy-Bewegung gesehen. Er braucht den Druck von links.
       
       Was ist Ihre moralische Bilanz der ersten Amtszeit Obamas? 
       
       Für mich ist der problematischste Punkt der Drohnenkrieg.
       
       Jimmy Carter, der frühere demokratische Präsident, hat von der „Bilanz
       einer außerordentlichen Grausamkeit“ gesprochen. Ein hartes Verdikt? 
       
       Hat er das gesagt? Also ja, das ist nicht zu rechtfertigen. Doch: Ist
       jeder, der einen schweren moralischen Fehltritt vorzuweisen hat, deshalb
       per se schlecht?
       
       Sie würden diese Praxis also als moralischen Fehltritt bezeichnen? 
       
       Ja, absolut.
       
       Ein Präsident, der im Keller des Weißen Hauses über „Kill-Listen“ sitzt und
       bestimmte Personen persönlich zum Abschuss freigibt? 
       
       Es gibt dafür keine Rechtfertigung. Auch wenn ich die Tatsache, dass er es
       persönlich macht, als Zeichen der Verantwortung interpretiere. Er setzt
       sich wenigstens mit der Frage auseinander. Und überlässt es nicht anderen.
       Glauben Sie, Bush hätte sich je Gedanken darüber gemacht? Für mich ist das
       Wichtigste, dass Obama wiedergewählt wird. Die Alternative ist ein
       Präsident Mitt Romney, der sofort den Iran bombardieren will. Sollte Obama
       siegen, muss es aber ernsthafte Proteste seiner Anhänger geben, die
       Drohnenpolitik zu ändern.
       
       Ist Obamas Drohnenkrieg nicht sogar moralisch anfechtbarer als der offene
       Angriffskrieg, auf den sein Vorgänger in dem „war on terror“ setzte? 
       
       Ja, und und nicht hauptsächlich weil alles im Geheimen stattfindet. Selbst
       in der Theorie des gerechten Krieges gab es so etwas wie eine Moral der
       kriegerischen Tugenden, nach der der Feldherr selbst Risiken eingehen muss.
       Aber wenn man nichts tut, als in einem Bunker zu sitzen und den Daumen zu
       heben, finde ich das moralisch noch verwerflicher.
       
       Was ist mit Guantánamo? Beeinträchtigt das Fortbestehen des
       Gefangenenlagers nicht weiter die moralische Glaubwürdigkeit Obamas? 
       
       Überhaupt nicht. Keiner der US-Bundesstaaten war bereit, auch nur einen der
       Insassen aufzunehmen. Und 104 andere Länder haben sich geweigert. Das kann
       man ihm nicht anlasten. Es war tatsächlich unmöglich.
       
       Barack Obamas moralisches Dilemma verkompliziert sich noch im Falle
       Syriens. Müsste er, um die universellen Menschenrechte durchzusetzen, hier
       nicht die militärische Politik befürworten, mit der er brechen wollte? 
       
       Ich kenne bislang keinen vernünftigen Vorschlag für eine Intervention in
       Syrien. Bislang hat niemand eine Antwort auf die Frage, ob die
       Grausamkeiten, die man durch eine Intervention auslöst, nicht die
       Grausamkeiten des Regimes übersteigen. Man kann Syrien nicht mit dem Krieg
       gegen den Irak vergleichen. Im Irak ging es nie um Demokratie. Aber dort
       sind über 100.000 Iraker gestorben, das Land ist verwüstet und nicht zum
       Frieden gekommen. Die Verletzung der Menschenrechte in Nordkorea ist
       vielleicht noch grausamer. Sollten wir da auch intervenieren?
       
       Ist der Fall Obama auch eine Lektion für Linke und Liberale, Konzepte wie
       Moral und Idealismus in der Politik nicht überzustrapazieren? 
       
       Ich finde, die Linke müsste den Begriff des erwachsenen Idealismus
       erlernen. Mir kommt die Lage manchmal vor wie in Deutschland 2005. Da
       klagten auch alle, dass Rot-Grün Kompromisse gemacht hätte und nicht besser
       sei als die anderen. Das hat mich damals sehr geärgert. Diese Unfähigkeit
       der Linken, mit der Macht umzugehen, war problematisch im Jahr 2005 in
       Deutschland und ist es auch in den Vereinigten Staaten heute.
       
       Im Wahlkampf 2008 hieß das Schlüsselwort „Hope – Hoffnung“. Jetzt spricht
       Obama von Verantwortung. Drückt sich darin die unausweichliche Anpassung an
       die Systemzwänge aus? 
       
       Systemveränderungen sind enorme Projekte. Ich habe eine entfernte Hoffnung,
       dass die Finanzkrise uns zu einem Nachdenken über den globalen Kapitalismus
       und seine extremen Nachteile bringt. Aber, um mit Leo Trotzki zu sprechen,
       das wird nur international gehen und nicht allein in einem Land. Und schon
       gar nicht in den konservativen USA. Auch Obamas Gesundheitsreform ist immer
       noch mit dem Gedanken verknüpft, dass Gesundheit ein Geschäft sei. Den sähe
       ich gern in einer zukünftigen sozialdemokratischen Welt abgeschafft, die
       man als fernes Ziel im Auge haben kann. Trotzdem macht es einen
       Unterschied, ob Abertausende Kinder sterben, weil sie gar keine
       Krankenversicherung haben.
       
       Obama hat also die richtigen Ansätze auf den Weg gebracht? 
       
       Was Obama gemacht hat, ist Reform, nicht Revolution. Und selbst die
       Reformen waren kleiner, als wir es gewünscht hatten. Aber Reformen retten
       Leben. Das ist vielleicht ein oberstes moralisches Gebot.
       
       Obama ist also das kleinere Übel, wie man in Deutschland so sagt? 
       
       Obama ist mehr als ein kleineres Übel. Worte haben Macht. Da sollte man
       vorsichtig sein. Er ist nicht eine so große Verbesserung, wie ich gerne
       hätte, aber das liegt, wie gesagt, nicht hauptsächlich an ihm. Aber es sind
       deutliche Verbesserungen.
       
       Würden Sie Obama noch in die Tradition der amerikanischen Linksliberalen
       von Bob Dylan bis John Rawls einordnen, die für Sie Vorbild sind? 
       
       Absolut. Noch. Mal sehen, was er in der zweiten Amtszeit fertigbringt.
       Wissen Sie: Ich bin im Süden der USA mit der Bürgerrechtsbewegung groß
       geworden. Uns schien es unvorstellbar, dass wir je einen schwarzen
       Präsidenten haben könnten. Das Integrationssymbol First Family hat mich
       persönlich nie so gerührt. Doch als ich zum ersten Mal diese schöne
       schwarze Familie gesehen habe: Also das ist schon eine Errungenschaft. Es
       ist mehr als symbolisch. Er hat ein Feld der Möglichkeiten eröffnet. Und
       das ist wichtig.
       
       22 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ingo Arend
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