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       # taz.de -- Schulabgänger ohne Lehrstelle: Lernen in der Parallelwelt
       
       > Die Arbeitsagenturen stecken Schulabgänger ohne Stelle gern in
       > Übergangsmaßnahmen. Die Kurse kosten Milliarden, einen Abschluss gibt es
       > oft nicht.
       
   IMG Bild: In der Berufsvorbereitung schnibbeln bis die feste Stelle kommt.
       
       BERLIN taz | „Das Ding hier“, doziert Herr Kuttner und sieht in die Runde,
       „ist eine richtige Keimhöhle. Beim Reinigen immer sehr viel Mühe geben!“ Er
       nimmt den Stecker der Aufschnittmaschine und hält ihn in die Höhe. „Wenn
       die nicht in Betrieb ist“, sagt Kuttner, kurze schwarze Haare, strenger
       Blick, „ist der draußen.“ Kapiert?
       
       „Hattest du schon mal einen Unfall“, fragt einer der jungen Männer, die
       sich die faltbare Kochmütze aus Papier heute zum ersten Mal aufgesetzt
       haben. Auf seiner steht mit blauem Edding „Marc“. „Natürlich“, sagt Herr
       Kuttner. „Lässt sich leider nicht vermeiden.“ Marc nickt.
       
       Fünf Jugendliche folgen Herrn Kuttner in weißen Kutten durch die Großküche
       in Berlin-Pankow. In den kommenden drei Jahren sollen sie hier lernen, wie
       man die Aufschnittmaschine keimfrei schrubbt, ohne sich in den Finger zu
       schneiden. Wie man Gemüse schnippelt. Wie lange die Kartoffeln in einem der
       Riesentöpfe auf dem Herd stehen müssen.
       
       Herr Kuttner will aus ihnen Köche machen. Aus Jugendlichen, denen die
       Hotels, Restaurants und Gaststätten in der Stadt kaum eine Chance geben.
       Und die sich oft auch selbst kaum eine Chance geben.
       
       „Ab morgen“, sagt Herr Kuttner und hält einen Kugelschreiber in die Höhe,
       „hat jeder einen Stift dabei. Man kann nur etwas lernen, wenn man hin und
       wieder etwas aufschreibt.“
       
       ## In Teufels Küche
       
       Die „Kiezküche“ ist ein Restaurant, das vor allem einen Zweck hat: jungen
       Leuten, die keine Lehrstelle finden, etwas beizubringen. Mittags kommen die
       Bewohner des benachbarten Seniorenheims zum Essen.
       
       Man kann sich fragen, warum es eine Ausbildung in der Kulissenwelt noch
       braucht. Denn auf den ersten Blick werden die Nachrichten vom
       Lehrstellenmarkt von Jahr zu Jahr besser. Die Arbeitsagenturen meldeten
       Ende August 101.100 unbesetzte Lehrstellen – denen gerade einmal 90.900
       Jugendliche gegenüberstehen, die noch suchen.
       
       Das liegt zum einen daran, dass weniger junge Menschen die Schulen
       verlassen und mehr an die Uni geht statt in die Lehre. Seit 2005 ist die
       Zahl der Menschen, die in die Berufsbildung streben, um fast 12 Prozent
       gesunken. Knapp eine Million sind es noch, steht im aktuellen
       Bundesbildungsbericht.
       
       ## Betriebe und Abgänger suchen aneinander vorbei
       
       Und trotzdem finden Jugendliche keine Lehrstelle. Es gibt verschiedene
       Gründe dafür. Der einfachste: Betriebe und Schulabgänger suchen aneinander
       vorbei. In manchen Regionen gibt es zu viele Bewerber, in manchen zu
       wenige. Und Schulabgänger wollen lieber Mediengestalter werden als
       Restaurantfachkraft.
       
       Die zweite Antwort ist komplizierter. Es gibt Jugendliche, deren Chancen
       sich kaum verändert haben – egal, wie gut sich der Lehrstellenmarkt
       entwickelt. Jugendliche, die einen schlechten oder gar keinen
       Schulabschluss wie ein Stigma vor sich hertragen. Die über die Jahre
       offenbar ein Gefühl der Entmutigung entwickelt haben, für das sie selbst
       keine richtigen Worte finden. Jugendliche wie Marc.
       
       Gerade so hat der jetzt 20-Jährige seinen Hauptschulabschluss geschafft.
       Ein einziges Mal hat er sich dann um eine Ausbildung beworben, bei einem
       Discounter. Die Mappe kam nicht zurück.
       
       „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, ich habe da mein
       Originalzeugnis reingelegt.“ Seither hat Marc es sein lassen mit den
       Bewerbungen.
       
       Warum?
       
       Schulterzucken.
       
       „Ich bin faul“, sagt Marc.
       
       Die Arbeitsagentur steckt ihn in Maßnahmen. Erst ein
       Berufsvorbereitungsjahr, dann Ein-Euro-Jobs. Einmal musste er jeden Morgen
       um sieben in der Früh mit anderen Jugendlichen in einer Werkstatt
       erscheinen und Dinge aus Holz basteln, um zu schauen, ob das etwas für ihn
       sein könnte. „War nichts für mich.“
       
       Dann sollte er es als Lagerhelfer probieren. „War ziemlich doof. Ich hatte
       keinen Plan davon.“ Nach drei Monaten flog er raus, weil er ständig zu spät
       war.
       
       Von der besseren Lage auf dem Ausbildungsmarkt, das steht auch im aktuellen
       Bundesbildungsbericht, profitieren Schulabgänger, die allenfalls einen
       Hauptschulabschluss haben, kaum. Sie landen immer noch häufig im
       Übergangssystem, so wie Marc. Viele Betriebe lassen lieber einen
       Ausbildungsplatz frei, als ihn mit einem Hauptschüler oder Schulabbrecher
       zu besetzen.
       
       Laut einer heute erscheinenden Studie der Bertelsmann-Stiftung des
       Bildungsökonomen Klaus Klemm wechseln 2012 rund 300.000 Jugendliche ins
       Übergangssystem – rund die Hälfte von ihnen, weil ihnen Abschlüsse oder
       Kompetenzen fehlen, um sich auf dem Lehrstellenmarkt zu behaupten.
       
       Für 2015 geht Klemm davon aus, dass 260.000 Jugendliche in Maßnahmen statt
       in Lehrbetrieben unterkommen. 4,3 Milliarden Euro kosten all diese Kurse,
       die zwar auf vieles vorbereiten, aber zu keinem Abschluss führen. Nur etwa
       die Hälfte der Jugendlichen schafft den Sprung aus dem Übergangssystem in
       einen regulären Ausbildungsbetrieb.
       
       ## Für viele ist die Ausbildungswelt zu rau
       
       Die „Kiezküche“ bietet den Jugendlichen zwar die Möglichkeit, einen
       Abschluss zu machen. Aber auch sie versucht, ihre Azubis möglichst schon
       vorher in echten Betrieben unterzubringen; 42 Tage im Jahr sind sie draußen
       beim Praktikum. Eine echte Lehrstelle bekommen danach gerade einmal zehn
       Prozent von ihnen angeboten. Oft ist die Ausbildungswelt zu hektisch, zu
       rau für Jugendliche, die sich ohnehin schon schwertun.
       
       Nadja, 24, muss allein zwei kleine Kinder großziehen. Schichtdienste?
       Arbeit am Abend und am Wochenende, wenn die Kita zu ist? Unmöglich. Seit
       September lernt sie Restaurantfachkraft in der „Kiezküche“.
       
       Auch Nadja tourte zuvor durch verschiedene Maßnahmen, ohne großen Erfolg.
       Die Arbeitsagentur vermittelte sie in ein Programm, in dem Alleinerziehende
       den Schulabschluss nachholen können. Aber Nadja brach nach einem Monat ab.
       „Ich mag einfach keine Schule.“
       
       Das Jobcenter sperrte ihre Bezüge, gab ihr Lebensmittelgutscheine, mit
       denen sie sich an der Ladenkasse anstellen musste. „Verdammt peinlich“,
       sagt Nadja. So stand es in der Eingliederungsvereinbarung, die sie
       unterschrieben hatte. Nur eben nicht gelesen. „Wenn ich abbreche“, sagt
       Marc, „muss ich dem Jobcenter 8.000 Euro zahlen.“
       
       „Ich nur 3.000“, sagt Nadja. Es ist ihre letzte Chance.
       
       20 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernd Kramer
       
       ## TAGS
       
   DIR Ausbildungsplätze
   DIR Ausbildung
       
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