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       # taz.de -- Klangkultur: Im Orchester wirds Frühling
       
       > Seit Hamburgs NDR Sinfonieorchester mit Thomas Hengelbrock einen neuen
       > Chef hat, geht es dort demokratischer und kreativer zu. Jetzt spielen
       > Jugendliche mit Profis zusammen, und die Altgedienten investieren eine
       > Menge ehrenamtlicher Arbeit.
       
   IMG Bild: Engagierte Nachwuchsförderung: Intergenerationelle Probe der NDR-Sinfoniker in der Laeiszhalle.
       
       Ob neue Orchesterakademie, ob Kommunikationstage oder persönlicher
       Do-it-yourself-Facebook-Auftritt: Das NDR Sinfonieorchester erfindet sich
       gerade in verschiedener Hinsicht neu. Die Musikerinnen und Musiker setzen
       eigene Ideen um und engagieren sich vor allem für die nachfolgende
       Generation. Aktuelles Beispiel ist die erste Probenphase des frisch
       gegründeten NDR Jugendsinfonieorchesters.
       
       Sonntagvormittag, Probentag 1 des neuen NDR Jugendsinfonieorchesters. Im
       Hamburger Rolf-Liebermann-Studio tasten sich rund 70 Jugendliche noch
       zögerlich durch einen Ungarischen Tanz von Johannes Brahms. In den vorderen
       Reihen sitzen erwachsene NDR-Sinfoniker und werfen sich aufmunternde Blicke
       zu. Schließlich ist das hier ihr Projekt.
       
       „Wir sind schon nervös, ob das alles so klappt, denn wir stecken da schon
       mit drin“, sagt Flötist Jürgen Franz etwas atemlos. „Den Anspruch, den wir
       an uns haben, haben wir natürlich auch an andere Leute – und auch an so ein
       Projekt.“
       
       Ein paar NDR-Streicher haben sich an diesem Tag unter die Jugendlichen
       gemischt wie Hütehunde, die ihre Schäflein beisammen halten. Am Pult waltet
       Hornist Dave Claessen; er studiert die Stücke mit dem gesamten Orchester;
       nachher leiten seine Kollegen die Stimmproben.
       
       Sie alle engagieren sich ehrenamtlich für das Jugendsinfonieorchester, das
       unter dem Dach der ebenfalls frisch gegründeten Orchesterakademie seine
       Heimat hat. Das ist auch so ein Idealismus-Projekt, das von der
       Aufbruchstimmung bei den NDR-Sinfonikern erzählt.
       
       Natürlich spielt bei all dem der Amtsantritt von Thomas Hengelbrock vor gut
       einem Jahr eine Rolle: Er ist ein Chefdirigent, der nicht müde wird, die
       Qualitäten seiner Musiker öffentlich zu loben, und der selbst
       kompromissloses Künstlertum verkörpert.
       
       Doch der eigentliche Wendepunkt liegt weiter zurück. Schon vor gut zwei
       Jahren hat das Orchester begonnen, sich neu zu erfinden. „Wir hatten eine
       ziemliche Durststrecke hinter uns – mit strenger Hierarchie und viel
       Druck“, erzählt Flötist Hans-Udo Heinzmann. „Doch das ist nicht mehr
       zeitgemäß, wir Musiker wollen uns mehr einbringen – auf Augenhöhe.“
       
       Der wendige Mann mit dem silbergrauen Vollbart und den vielen Lachfältchen
       weist auf die lange Hochschulausbildung heutiger Orchestermusiker hin, ihr
       künstlerisches Selbstverständnis und den Wunsch, eigene Ideen umzusetzen.
       Die Konsequenz heißt: mehr Demokratie wagen – auch innerhalb des
       Orchesters.
       
       Deshalb befeuern schon seit 2010 so genannte Kommunikationstage den Wandel
       der Sinfoniker. Seither nehmen sich die 102 Musiker regelmäßig Zeit, um
       sich unter dem Dirigat von Kommunikationsprofis über das Miteinander und
       das Arbeitsklima auszutauschen. „Das ist in der Wirtschaft längst gang und
       gäbe“, sagt Heinzmann.
       
       In Orchestern allerdings nicht. Und deshalb erregt das, was die
       NDR-Sinfoniker da jetzt praktizieren, Aufsehen in der Orchesterszene.
       Andere namhafte Ensembles fragen an, interessieren sich für das Konzept.
       
       Vor zwei Jahren ist zudem der neue Orchesterrat entstanden: ein Gremium vor
       allem aus Musikern, das bei Konflikten und Wünschen vermittelt und Impulse
       gibt. Die Kommunikationstage waren einer davon. Auch fand sich auf diesem
       Weg eine Gruppe, die beobachtet, wie sich das Orchester nach außen
       präsentiert. Eine Maßnahme: Die Musiker pflegen selbst ihre Facebook-Seite,
       machen Fotos, schreiben Info-Texte, gern gewürzt mit persönlichen
       Kommentaren.
       
       Außerdem hatte der Orchesterrat die Idee für eine Akademie, die ihre Arbeit
       im Februar dieses Jahres aufgenommen hat. Sie vergibt zweijährige
       Stipendien an herausragende junge Musiker, die sich – frisch von der
       Hochschule – auf eine Orchesterlaufbahn vorbereiten wollen. Sie spielen
       dann im großen Orchester mit. Und im NDR Jugendsinfonieorchester können die
       Stipendiaten Erfahrungen als Stimmführer sammeln – ein Top-Training für die
       Probespiele, die zu jeder Bewerbung um eine Orchesterstelle gehören.
       
       Das NDR Jugendsinfonieorchester selbst steht musikalisch besonders Begabten
       offen. Die erste Projektphase dieser Elite-Auswahl endete vor wenigen Tagen
       und führte rund 70 Jugendliche aus Norddeutschland zusammen. Die Zwölf- bis
       22-Jährigen, die zum Beispiel Preise bei „Jugend musiziert“ gewonnen
       hatten, wurden persönlich eingeladen. Künftig wird es aber Probespiele
       geben. Und Chefdirigent Thomas Hengelbrock würde sich freuen, wenn
       interessierte Jugendliche mal anriefen oder eine DVD schickten, um hier
       vorspielen zu können.
       
       Schließlich müsse die nächste Generation irgendwann „die Staffel
       übernehmen“. Und der Mittfünfziger ist überzeugt, „je leidenschaftlicher
       und kompetenter die jungen Leute an den Beruf herangeführt werden, desto
       fester sind sie mit dem Beruf verhaftet“.
       
       Auch wenn das Ziel „Berufsmusiker“ keine offizielle Voraussetzung ist, um
       beim NDR Jugendsinfonieorchester mitzumachen – die Proben der einzelnen
       Stimmgruppen wirken professionell. Zum Beispiel, als Jürgen Franz in einem
       winzigen Raum mit den Holzbläsern an kniffligen Läufen feilt. Die Luft
       steht, aber pausiert wird erst, als alles rund läuft.
       
       „Wir müssen erst mal zusehen, dass die jungen Leute funktionieren. Für die
       Interpretation sind die Dirigenten zuständig“, sagt der Flötist. Aber
       natürlich greift auch in solchen Stimmproben die Grundidee, die ihn und
       seine Kollegen antreibt: Klangkultur zu vermitteln, ein Gespür für den
       warmen, eher dunklen Sound der NDR-Sinfoniker zu wecken.
       
       Bevor Jürgen Franz seine Holzbläser loslegen ließ, ging es aber erst mal um
       Basiswissen. Worauf hören beim Spielen im Orchester? „Auf den Grundton“,
       verrät der erfahrene Profi. Das mache den Gesamtklang rund; ein Detail von
       vielen. Um ein sehr guter Orchestermusiker zu werden, braucht es eine
       Reifezeit. „Zu viele verfolgen zu lange eine Solo-Laufbahn“, weiß Hans-Udo
       Heinzmann als langjähriger Hochschullehrer.
       
       Heinzmann hat gerade die Altersgrenze erreicht und ist eigentlich im
       Ruhestand. Aber als Vorsitzender der Akademie des NDR Sinfonieorchesters
       ist er sehr gefragt; schließlich ist die Akademie als Verein organisiert.
       Und da muss über Mitgliedsbeiträge und Sponsorengelder noch Geld in die
       Kasse kommen, bevor man eine Sekretärin oder Dozenten bezahlen kann.
       
       Aber bis dahin heißt es für den Pensionär und sein Akademie-Team: selbst
       anpacken. Gerade richten sie auf dem Hamburger NDR-Gelände ein Büro ein.
       Eine entspannte Arbeit – nicht zu vergleichen mit der aufwändigen
       Vereinsgründung: Viel war zu organisieren, etliche juristische Fragen
       mussten geklärt werden.
       
       „Sie sehen es: Das NDR Sinfonieorchester hat Nachwuchs bekommen!“ Thomas
       Hengelbrock strahlt, als er im Eröffnungskonzert der neuen Konzertsaison
       das NDR Jugendsinfonieorchester und die Akademie vorstellt. In den Pausen
       stehen die Mitglieder des Akademie-Vorstands wie glückliche Eltern an ihrem
       Info-Stand im Foyer. Die Broschüren duften leicht minzig, schicke
       Aufsteller im Hintergrund lassen das grün dominierte Akademie-Logo
       leuchten. Ein frisches Frühlingsgrün: die Farbe der Hoffnung und des
       Aufbruchs.
       
       19 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dagmar Penzlin
       
       ## TAGS
       
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   DIR Klassik
       
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