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       # taz.de -- Kommentar Ausschreitungen Tunesien: Wild gewordene Männer
       
       > In Tunesien kämpfen Salafisten gegen die offene Gesellschaft. Lasche
       > Sicherheitsmaßnahmen spielen ihnen in die Hände.
       
       „Wohin geht unser Land? Wer regiert es? Das Mysterium und Männer mit
       Gummibärten?“, fragt der tunesischer Kommentator Hatem Bourial nach den
       gewalttätigen Angriffen der Salafisten auf die amerikanischen Botschaft in
       Tunis. Auch die amerikanische Schule wurde angezündet.
       
       Wie Bourial sind viele Tunesier ratlos. Sie sind schockiert über die
       zerstörerischen Übergriffe auf eine internationale Institution. Sie
       fürchten die Gewalttätigkeiten der Salafisten genauso, wie deren
       rückwärtsgewandte Ideologie und schlichte US-Feindlichkeit.
       
       Der amerikanische Botschafter in Tunis, Jacob Walles, warf den tunesischen
       Behörden vor, die Botschaft nicht ausreichend geschützt zu haben. Zu recht.
       Denn nach den vorausgegangenen Ausschreitungen gegen die amerikanische
       Botschaft im libyschen Bengasi und dem Tod des dortigen amerikanischen
       Botschafters, Chris Stevens, hätten die Behörden gewarnt sein müssen.
       
       Angesichts des hysterischen Aufschreis der Gekränkten vom Jemen bis
       Tunesien mussten sie mit dem Schlimmsten rechnen. Höchste Alarmstufe. Warum
       waren sie so schlecht vorbereitet? Ein Teil des amerikanischen
       Botschaftspersonals wurde inzwischen aus Tunesien abgezogen, die
       amerikanische Schule wird nach den Aufräumarbeiten noch diesen Monat wieder
       geöffnet.
       
       Die politischen Repräsentanten Tunesiens, vom Außenminister bis zum
       Präsidenten, haben die Gewalt öffentlich verurteilt. Doch es bleiben viele
       Fragen offen.
       
       ## Riesiger wirtschaftlicher Schaden
       
       Sind die laschen Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der amerikanischen
       Botschaft organisatorischem Versagen geschuldet oder einer zögerlichen,
       halbherzigen Duldung der salafistischen Großauftritte? Ist die islamische
       Partei Ennadha, die in der verfassungsgebenden Versammlung die Mehrheit
       hat, doch nicht so aufgeklärt und modern wie sie sich nach außen gibt?
       Profitiert sie von dem Terror der islamischen Fundamentalisten? Warum
       konnte einer der Anführer der Proteste vor der amerikanischen Botschaft,
       Seif Allah Ben Hassine, gestern flüchten, trotz hunderter
       Sicherheitskräfte, die ihn vor der Moschee in Tunis aufgreifen sollten?
       
       In diesem Klima der politischen Winkelzüge und Unklarheiten gedeihen
       Spekulationen und Verschwörungstheorien über dunkle, antidemokratische
       Kräfte. Den vom Maghreb bis zu arabischen Halbinsel gut vernetzten,
       religiös verbrämten Fundamentalisten ist jeder Anlass, jede noch so banale
       Lästerung recht, die neue Munition im Kulturkampf gegen eine offene,
       moderne Gesellschaft liefern. Auch in Tunesien, wo es eine starke,
       aufgeklärte Zivilgesellschaft gibt und das Pflänzchen der arabischen
       Revolution unter internationaler Beobachtung erblühen sollte.
       
       Die religiösen Hardliner trampeln darauf herum. Durch Einschüchterung und
       anbiedernden Populismus im Lande selbst, aber auch, indem sie das Bild
       einer fanatischen Gesellschaft nach außen tragen. Sie untergraben damit
       nicht nur die Anstrengungen, eine aufgeklärte Demokratie aufzubauen,
       sondern sie schaden auch nachhaltig dem wirtschaftlich Aufbau und damit der
       sozialen Befriedung. Wer will schon in ein Land mit wild gewordenen Männern
       reisen oder dort investieren?
       
       18 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Edith Kresta
       
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