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       # taz.de -- New York privat: „I am so busy!“
       
       > Man kann in der Stadt ein ganz normales Leben führen - wenn man verrückt
       > ist. Die Stadt ist Mythos, das Klischee nie weit entfernt, und alles ist
       > irgendwie großartig!
       
   IMG Bild: Unverzichtbar fürs schnelle Leben: das Cab.
       
       Zweieinhalb Jahre habe ich in New York gelebt. Ich habe gesehen, wie Hunde
       Gassi getragen werden, wie jede Frau zur Maniküre geht und sicher jeder
       zweite Mann. Ich habe überdurchschnittlich viele Artikel über den
       überdurchschnittlich hohen Frauenüberschuss in dieser Stadt gelesen,
       gesehen, dass hier alle mehrere Eisen im Feuer bzw. Typen an der Hand
       haben, und meine Schlüsse daraus gezogen, wieso fast alle meine
       (Single-)FreundInnen Katzen oder Hunde haben.
       
       Ich habe zwei Businessfrauen in der U-Bahn von ihrem Tortendekorationskurs
       schwärmen gehört und eine Lehrerin für Einwecken und Einlegen
       kennengelernt, für eingelegte Gürkchen vom Biomarkt 10 Dollar gezahlt, auf
       der Promenade von Brighton Beach zur Mittagszeit neben Hippie und Omi
       getanzt, Brooklyn Lager und Sierra Nevada Pale Ale getrunken (niemals Bud
       Light!). Mich für alles, was auch nur mittelmäßig interessant oder
       vermeintlich lecker ist, in eine Schlange gestellt. Verstanden, warum
       manche ihre Stadt „New York Shitty“ nennen.
       
       Man kann in New York ein ganz normales Leben führen – wenn man verrückt
       ist. Nicht viel Geld zu haben macht das Leben schwer, nicht reich zu sein
       ist auch schon ein Nachteil. In New York leben Vierzigjährige noch in WGs.
       Die sind oft sehr schick, aber das Zimmer kostet so viel wie in Berlin eine
       ganze Wohnung, und nicht jeder läuft gern an Autowerkstätten und
       Brachflächen nach Hause.
       
       Die U-Bahn ist nachts und frühmorgens voll mit schlafenden Mexikanern,
       Dominikanern, Indern, Vietnamesen … Die sind auf dem Hin- oder Heimweg von
       ihren 12-Stunden-Schichten, bei denen sie umgerechnet 3 Euro die Stunde
       verdienen. Die Kinder- und Müttersterblichkeit ist unter Latinas und
       Afroamerikanerinnen unverhältnismäßig hoch – sie haben keine
       Krankenversicherung. Deswegen haben in New York viele Leute schiefe Zähne.
       Nix Zahnspange.
       
       „Amerika ist ein Dritte-Welt-Land!“, höre ich manchmal. Und manchmal, wenn
       ich wütend bin, weil die Straße überschwemmt ist, ich auf der Post nach
       zwei Stunden Warten übel abserviert werde, es in der U-Bahn-Station auf
       meinen Kopf tropft, während der Zug einfach nicht kommt, glaube ich das
       auch.
       
       Wenn man in New York gefragt wird, wie es einem geht, sagt man nicht „gut“.
       Man sagt: „I am so busy!“ Erst dann ist man ein richtiger New Yorker.
       
       ## Jeder weiß es besser
       
       New York ist so, wie man es sich vorstellt und aus den Filmen und
       Krimiserien kennt. Ab und zu ist eine der gelben Plastikabsperrungen dabei,
       hinter der das Opfer (hoffentlich) mit einem weißen Tuch verdeckt ist.
       
       Nur in den Krimiserien leben die einsamen Kommissare immer in dunklen
       Wohnungen mit verschlossenen Jalousien, durch die die blinkenden Lichter
       der Oben-ohne-Bar scheinen und das Rattern und Quietschen der U-Bahn zu
       hören ist. Ich habe nie in solchen Wohnungen gewohnt. Vielleicht, weil
       Giuliani die Oben-ohne-Bars verboten hat. Der ehemalige New Yorker
       Bürgermeister hat auch das spontane Tanzen in Kneipen verboten. Und der
       Nachfolger Bloomberg das Salz im Essen. Die Stadt ist Mythos und das
       Klischee nie weit entfernt.
       
       Und sie ist so groß, dass man seine eigenen Schätze finden kann. Im Kaff
       kennt jeder alles. In New York weiß es jeder besser; wo es die beste Pizza
       gibt, den besten Burger, die tollste Wurst, die knackigste Kunst – aber
       auch die miesesten Bagels, das ödeste Musical, das scheußlichste
       Theaterstück. New Yorker haben immer eine Meinung. Sie wissen Bescheid und
       tun es mit schneidendem Sarkasmus kund. Wenn sie etwas mögen, finden sie es
       richtig, richtig, richtig, richtig großartig: „Great!“ – „Awesome!“ –
       „Amazing!“ – „Hilarious!“ Das Ausrufezeichen ist des New Yorkers liebstes
       Satzzeichen.
       
       ## Alles im Superlativ
       
       Ein Freund auf Besuch weist auf ein Schild „Best Burger of the World!“ und
       schaut mich erwartungsvoll an. „Das ist nur ein Schild, Mark“, antworte ich
       ihm. Genau genommen gibt es in den USA nur Schilder zu bestellen, die „best
       of“, „world-famous“, „mega super“ in Kombination mit „of the world“, „of
       the universe“ und „of the galaxy“ enthalten. Understatement ist ein
       britisches Wort, kein amerikanisches.
       
       In New York kann auch ein Neuankömmling Experte werden. Man muss nur eine
       Gegend wählen, wo sonst keiner aus der Peergroup wohnt. Allerdings kann es
       sein, dass man dann nie Besuch bekommt. Vielleicht auch wegen der
       Kriminalstatistik.
       
       Apropos: Eine meiner Nachbarschaften, in denen ich in meiner Zeit in New
       York gelebt habe, war Bedford-Stuyvesant (Bed-Stuy). The Notorious B.I.G.
       und andere Gangster-Rapper sind hier aufgewachsen. Diesen Einfluss hört man
       täglich vom Fenster aus: HipHop rauf und runter und böse Wörter, die mit B,
       F, N oder M anfangen. Die Autos sind Karren, aber die Musikanlage ist vom
       Feinsten. Vor Giuliani und zehn Jahren war das eine sehr gefährliche Gegend
       New Yorks.
       
       Als ich 2010 dorthin zog, war ich oft die einzige Weiße auf der Straße.
       Nach einem guten Jahr wurde das anders. Plötzlich gab es Cafés voller
       Hipster, die sich Halbfettsojamilch für den Chai Latte wünschten. Künstler
       und Studenten sind die Crash-Test-Dummies der Gentrifizierung. Die Mieten
       gehen schneller hoch, als die Mordrate runtergeht. Condos werden gebaut und
       Familien, alte Menschen, vor allem arme Leute weggetrieben, die sich die
       überzogenen Mieterhöhungen nicht leisten können.
       
       In der Straße, in der ich gelebt habe, war jedes dritte Haus eine Kirche –
       Mount Pisgah Baptist Church, Mount Olive Temple, Lion of Judah Ministries,
       New Jerusalem Baptist Church, Saint Pauls Church, Shiloh Baptist Church,
       First AME Zion Church.
       
       ## Hello snow flake
       
       Eine afroamerikanische Oma lächelt mich an und sagt „Good morning, white
       lady!“ Eine andere ältere Dame mit dunkler Haut, aber knallgelben Haaren
       brüllt einer Ratte hinterher „You fat motherfucker!“
       
       Als ich 2010 nach Bed-Stuy ziehe, wird eine Woche später ein junger Mann
       erschossen, direkt vor meiner Tür; „gangs and drugs“, sagt mir der Nachbar.
       Noch Monate später stehen Kerzen und ein gemaltes Pappschild mit Herzchen
       an der Straßenecke. Ich habe an vielen Ecken New Yorks diese Kerzen und
       Schilder gesehen. 10 Dollar „mugging money“ habe ich immer dabei (to mug =
       slang für ausrauben), in einem zweiten Geldbeutel. Ich werde nie
       überfallen, auch nicht um 4 Uhr morgens. Meine Nachbarn grüßen mich auf der
       Straße, manchmal mit „Hi vanilla ice-cream!“ oder „Hello snow flake!“
       
       Einmal ist mir etwas passiert: Ein winziger Chihuahua hat mich in die Wade
       gebissen. Der Teufel ist ein Schoßhund. Natürlich vermisse ich New York.
       
       8 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Juliane Pieper
       
       ## TAGS
       
   DIR Reiseland USA
       
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