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       # taz.de -- Gefahren radioaktiver Niedrigstrahlung: Die späte Wahrheit
       
       > Wissenschaftler streiten noch über die Auswirkungen niedriger Strahlung.
       > Atomkraftkritiker sehen sich durch meßbare Folgen bestätigt.
       
   IMG Bild: Genau an der Kette hört die Strahlung auf? Auch die niedrige?
       
       BERLIN taz | Die mutierten Schmetterlinge rund um das AKW Fukushima haben
       die Debatte über Niedrigstrahlen angeheizt. Denn wenn sich herausstellt,
       dass Niedrigstrahlung gefährlicher ist als angenommen, könnte der Betrieb
       von Atomkraftwerken oder die Lagerung von Atommüll kontroverser werden.
       
       Erst im Juni hat die Zeitschrift Bulletin of the Atomic Scientists dem
       Thema eine ganze Ausgabe gewidmet. Tenor: Niedrigstrahlung ist ein
       verdrängtes Problem. Kurz zuvor war eine Studie des Massachusetts Institute
       of Technology erschienen. Kernaussage: Niedrigstrahlung ist harmlos.
       
       Umstritten sind nämlich weiterhin die Folgen für die Menschen. Eine Studie
       der Weltgesundheitsorganisation WHO vom Frühjahr gab grundsätzlich
       Entwarnung. Demnach liege die durchschnittliche Gesamtbelastung der
       Menschen in der Provinz Fukushima mit 1 bis 10 Millisievert unter den
       internationalen Grenzwerten für die Radonbelastung in Wohngebieten, nur an
       zwei Orten sei sie mit 10 bis 50 Millisievert höher. Auch diese Dosis liegt
       nach WHO-Angaben aber noch im akzeptablen Bereich für Notfallsituationen
       und entspricht der Strahlung aus zwei Ganzkörper-Computertomografien eines
       Erwachsenen.
       
       Die Belastung der Schilddrüse, die auf Radioaktivität besonders sensibel
       reagiert, liegt nach WHO-Untersuchungen im Extremfall bei 200 Millisievert.
       Zum Vergleich: In Tschernobyl wiesen die Patienten mit Schilddrüsenkrebs im
       Schnitt eine Belastung von 300 Millisievert aus, in Extremfällen bis zu
       50.000 Millisievert. Es gibt Berichte über abnormal groß gewachsene
       Schilddrüsen bei Kindern in Fukushima. Diese seien nur aus einem
       Krankenhaus gemeldet worden und nicht bestätigt, sagt das deutsche
       Bundesamt für Strahlenschutz (BfS).
       
       ## Unterschätzte Gefahr
       
       Die deutschen Strahlenschützer sind mit dem Thema Niedrigstrahlung schon
       länger konfrontiert. Kritiker wie Sebastian Pflugbeil von der Gesellschaft
       für Strahlenschutz monieren, diese Gefahr werde unterschätzt. Er verweist
       auf die Studien von Hagen Scherb vom Institut für Biomathematik beim
       Münchner Helmholtz-Zentrum.
       
       Scherb macht die zusätzliche Belastung der bayerischen Bevölkerung nach
       Tschernobyl durch Radioaktivität für höhere Kindersterblichkeit,
       Missbildungen und ein verändertes Geschlechterverhältnis verantwortlich.
       Bei einer erhöhten Gesamtbelastung zwischen 0,1 und 1,2 Millisievert, also
       etwa einem Zehntel der Fukushima-Dosis, sieht Scherb allein für Bayern von
       1987 bis 1991 eine Zunahme bei Totgeburten um 10 Prozent, bei Missbildungen
       um 13 Prozent.
       
       „Vermutlich sind die Auswirkungen in Japan mindestens so hoch wie das, was
       wir hier in Deutschland gesehen haben“, sagt Pflugbeil. Ob diese Zahlen
       allerdings in Japan erhoben werden, ist fraglich. Das Land habe eine andere
       „Erfassungskultur“ als Deutschland, meint Scherb: „Eventuell wird ein
       totgeborenes oder missgebildetes Kind nicht gezählt.“
       
       ## Statistische Häufung beweist nichts
       
       Das BfS hält dagegen. In einer eigenen Studie zu den Vorfällen in Bayern
       habe sich keine wissenschaftlich haltbare Verbindung zwischen
       Strahlenbelastung und Missbildungen nachweisen lassen, sagt eine
       Sprecherin. Auch beweise eine statistische Häufung noch nichts, wenn es
       keinen „biologischen Wirkmechanismus“ gebe, der die Erkrankungen erkläre –
       und eine solche Erklärung gebe es bislang nicht.
       
       So habe eine breit angelegte Studie zu Leukämie-Erkrankungen bei Kindern
       ergeben, dass es in der Nähe von AKW eine statistische Häufung von Leukämie
       bei Kindern unter fünf Jahren gebe. Eine Erklärung dafür gibt es jedoch
       nicht. Ob nicht doch die Niedrigstrahlung der Atomanlagen gefährlicher sein
       könne als angenommen? „Wir nehmen die Hinweise aus der Studie ernst und
       forschen an den Ursachen von Leukämie und daran, welchen Anteil
       Radioaktivität hat“, erläutert die Sprecherin.
       
       Zu Vorsicht rät auch Michael Atkinson, Leiter des Instituts für
       Strahlenbiologie am Helmholtz-Zentrum in München. Scherbs Studie zu den
       bayerischen Totgeburten sei methodisch umstritten, sagt Atkinson. Und auch
       bei der japanischen Untersuchung zu den mutierten Schmetterlingen sei nicht
       klar, ob tatsächlich das Erbgut der Tiere betroffen sei, denn die DNA der
       Schmetterlinge sei extrem kompliziert. „Die Wahrheit werden wir erst in
       zehn Jahren wissen,“, sagt Atkinson. „Der Grundsatz lautet: Beeilung mit
       dem Datensammeln – und dann viel Geduld haben.“
       
       4 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Pötter
       
       ## TAGS
       
   DIR Tschernobyl
       
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