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       # taz.de -- Energiewende in Geesthacht: Vom Atom-Standort zur Öko-Modellstadt
       
       > Geesthacht will sich von seiner nuklearen Vergangenheit mit dem AKW
       > Krümmel verabschieden und wird ökologische Modellstadt. Zudem richtet
       > Geesthacht die erste Energiewendemesse im Norden aus.
       
   IMG Bild: Teil der Energiewende: Das im November 2011 wieder in Betrieb genommene Pumpspeicherwerk an der Elbe im Geesthachter Stadtteil Krümmel.
       
       Wenn es nach William Boehart ginge, gäbe es die vier großen Energiekonzerne
       in Deutschland gar nicht mehr. „Die müssen weg“, sagt der 65-Jährige
       Archivar. Vattenfall und Co. sind unerwünscht in Geesthacht auf der ersten
       Energiewendemesse in Norddeutschland. „Die haben wir nicht eingeladen“,
       sagt Boehart, Sprecher des Forums Kultur und Umwelt, das die Messe
       organisiert hat.
       
       Drei große Messezelte und Dutzende Stände stehen auf dem 8.000 Quadratmeter
       großen Gelände der ehemaligen Menzer-Werft auf einer Halbinsel direkt an
       der Elbe. 48 Aussteller zeigten hier rund 3.000 Besuchern von Freitag bis
       Sonntag, wie die Energiewende funktionieren könnte. Wärmedämmung für Häuser
       und Wohnungen, maßgeschneiderte Photovoltaikdächer, Blockheizkraftwerke und
       Windkraftanlagen für das Eigenheim sind im Angebot.
       
       „Wir wollen den Verbrauchern konkret zeigen, dass sie auch Produzenten sein
       können“, sagt Boehart. Die Zukunft bestehe „aus dezentralen Lösungen“,
       großindustrielle fossile Kraftwerke „waren und sind das Problem“. Eines
       davon und zugleich das größte in der Region ist vom Ufer aus zu sehen: das
       abgeschaltete Atomkraftwerk Krümmel, knapp vier Kilometer elbaufwärts.
       
       Vor gut einem Jahr wurde das AKW von der Bundesregierung stillgelegt.
       Umgehend habe der Stadtrat mit der Planung der Energiewende in Geesthacht
       begonnen, erzählt der parteilose Bürgermeister Volker Manow. „Eigentlich
       war niemand dagegen“, sagt er noch jetzt mit leichter Verwunderung. Außer
       Jörg Kuhnert. Doch der städtische CDU-Chef, der an der Atomkraft festhalten
       wollte, wurde im Mai 2011 von seinen eigenen Leuten abgesetzt.
       
       Obwohl die Energiewende zunächst mal teuer wird. Rund neun Millionen Euro
       Steuern jährlich führte Krümmel an die Stadt ab, fast ein Fünftel des
       Jahreshaushalts von 50 Millionen Euro. Bis 2007 war das, denn seit der
       Abschaltung nach einem Trafobrand vor fünf Jahren hat Krümmel keinen Strom
       mehr produziert und keine Gewinne versteuert. Die Rücklagen Geesthachts
       schmolzen von 70 Millionen Euro auf nur noch 15 Millionen. „Und die sind
       auch bald alle“, sagt Bürgermeister Volker Manow. „Wir mussten was tun.“
       
       Bis 2030 soll die 30.000-Einwohner-Stadt vollständig auf selbst
       produzierten Ökostrom umgestiegen sein, lautet das Ziel. Dafür soll auf der
       Messe eine Energie-Genossenschaft der Geesthachter Einwohner gegründet
       werden. Die Idee ist, auf bis zu 164 Dächern von Schulen und öffentlichen
       Gebäuden, die jüngst für 28 Millionen Euro aus den Rücklagen sanierten
       worden waren, Photovoltaikanlagen zu errichten. „Dann hätten wir das Geld
       doppelt gut ausgegeben“, sagt Bürgermeister Manow.
       
       Das alles passiert unter den Augen der Bolls, Bettina und Gerhard. Im Juni
       vorigen Jahres, mit dem Stilllegungsbeschluss für Krümmel, beendeten sie
       ihre Mahnwachen in der Innenstadt – nach 30 Jahren Widerstand gegen die
       Atomkraft. Gerhard Boll, pensionierter Lehrer, leitet jetzt den
       Energieausschuss der Stadt, Bettina Boll steht auf dem Messegelände am
       Stand von BUND und Elterninitiative gegen Atomkraft, und informiert über
       Öko-Strom und Öko-Essen. Sie will den Atomausstieg erst glauben, wenn der
       Meiler Krümmel tatsächlich abgebaut wird. „So lange“, sagt die 58-Jährige,
       „bleibe ich wachsam.“
       
       Wolf-Rüdiger Busch denkt bereits weiter: „Wie baut man ein AKW ab?“, fragt
       der Leiter des städtischen Museums. Ihm schwebt vor, den Rückbau zu
       dokumentieren und der Nachwelt zu zeigen, „wie Fehler korrigiert werden
       können“. In fünf Jahren geht Busch in Pension. Bis dahin, so seine
       Hoffnung, ist das AKW verschwunden und seine Ausstellung über das Ergrünen
       von Geesthacht fertig.
       
       26 Aug 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sven-Michael Veit
       
       ## TAGS
       
   DIR Vattenfall
       
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