# taz.de -- 20 Jahre Pogrom in Lichtenhagen: „Mahner wurden nicht gehört“
> Sind die rassistischen Gewaltexzesse der neunziger Jahre richtig
> aufgearbeitet worden? Ach was, sagt der sachsen-anhaltinische
> Rechtsextremismusexperte David Begrich.
IMG Bild: Ouvertüre für ein ganzes Jahrzehnt rechtsextremer Gewalt – Lichtenhagen 1992.
taz: Herr Begrich, im Frühjahr gab es einen Staatsakt für die Opfer des NSU
mit der Kanzlerin, am Sonntag spricht der Bundespräsident zum 20. Jahrestag
des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen. Hat Deutschland verstanden?
David Begrich: Da bin ich skeptisch. Mich hat erstaunt, wie schnell das
Thema NSU aus der gesellschaftspolitischen Debatte verschwunden ist und
sich in die Aktenberge der Untersuchungsausschüsse verlagert hat.
Allein die taz hat mehr als 350 Texte gedruckt, in denen der NSU vorkam.
Auch andere Medien berichten ausführlich.
Das stimmt. Aber ich habe den Eindruck, dass das ein reiner Expertendiskurs
geworden ist. Es gibt ein paar Journalisten, Politiker, Wissenschaftler und
Leute von Initiativen wie der unsrigen – aber die Frage, wie man
langfristig mit der Kontinuität des Rechtsextremismus umgeht, wird nicht
breit in der Gesellschaft diskutiert. Und auch nicht die Kontinuität des
Behördenversagens.
Wie meinen Sie das konkret?
Nicht nur in Rostock-Lichtenhagen und beim NSU haben die
Sicherheitsbehörden versagt. Auch in anderen Fällen zeigt sich immer
wieder, dass sie oft keinen adäquaten Umgang mit rechtsextremen und
fremdenfeindlichen Straftaten finden.
Hier in Sachsen-Anhalt hat es eine ganze Reihe von Vorfällen gegeben, bei
denen die Polizei mit Opfern rechter Gewalt falsch umgegangen ist.
Überregional bekannt geworden ist der Überfall auf eine Theatergruppe in
Halberstadt, wo wegen der Fehler der Polizei einige der Täter ungestraft
davonkamen.
Was muss sich ändern?
Wir rekapitulieren in diesen Tagen sehr detailreich, was in jenen Tagen im
August 1992 in Rostock- Lichtenhagen passiert ist. Ich würde mir aber
wünschen, dass in Politik und Medien noch kritischer reflektiert wird, dass
Lichtenhagen die Ouvertüre für ein ganzes Jahrzehnt rechtsextremer Gewalt
war, das nie richtig aufgearbeitet wurde. Auch die Sozialisation der
NSU-Täter lag ja in den frühen 90ern. Damals bekamen Neonazis den Eindruck,
sie können unsanktioniert tun, was sie wollen. Opfer, Mahner und Menschen,
die sich gewehrt haben, wurden dagegen oft nicht gehört.
Können die Untersuchungsausschüsse zum NSU diesen breiteren
historisch-soziologischen Kontext mit aufarbeiten?
Die Politiker in den Ausschüssen versuchen mit großer Akribie
nachzuvollziehen, was beim NSU schiefgelaufen ist. Ich hätte mir aber
parallel zu den Ausschüssen tatsächlich eine unabhängige Kommission der
Bürgergesellschaft gewünscht, die von sich aus sagt: Wir arbeiten den
Rechtsextremismus von den 90er-Jahren an auf.
Die öffentliche Debatte schwankt ja ständig zwischen Hysterie und
Verharmlosung. Was wir brauchen, ist ein ruhiger, kontinuierlicher Blick
auf die Entwicklungen und eine Einordnung in einen Zeitraum, der größer ist
als die letzten Jahre.
Welchen Satz wünschen Sie sich von Joachim Gauck am Sonntag in
Rostock-Lichtenhagen?
Es wäre gut, wenn er deutlich benennen würde, um was es geht: Rassismus.
Das klingt banal.
Ist es aber nicht. Wir hören in der Debatte um 20 Jahre Lichtenhagen gerade
doch wieder die alten Argumentationsfiguren: Schuld waren die
gesellschaftlichen Umbrüche, die Wendewirren, die Arbeitslosigkeit. Diese
ganzen Verharmlosungen kann man mit dem Wort Rassismus beiseiteschieben.
24 Aug 2012
## AUTOREN
DIR Wolf Schmidt
## TAGS
DIR Schwerpunkt Rostock-Lichtenhagen
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