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       # taz.de -- Jazztrompeter Wadada Leo Smith: Jeder Spieler ist eine Einheit
       
       > Der Jazztrompeter Wadada Leo Smith, der sich für die Freiheit des
       > Einzelnen einsetzt, veröffentlicht sein Mammutprojekt „Ten Freedom
       > Summers“.
       
   IMG Bild: Die Kindheitserlebnisse im rassistischen Mississippi prägten sein Freiheits- und Kunstverständnis: Wadada Leo Smith.
       
       Jazz gilt im aktuellen Mainstream als leicht spießige Form der
       bewährt-gediegenen Unterhaltung auf hohem Niveau. Ein Relikt, scheint es,
       aus einer untergegangenen Ära, die man der Nostalgie halber nicht loslassen
       möchte.
       
       Dass Jazz nach wie vor hoch politisch sein kann und sich beständig
       fortentwickelt, wird häufig übersehen. Er kann sogar völlig neue
       künstlerische Gestalt annehmen und sich komponierten Großformen nähern,
       deren Dimensionen an Wagner-Opern heranreichen. Für Improvisation bleibt
       bei alledem immer noch Platz.
       
       Wadada Leo Smiths „Ten Freedom Summers“ sind ein solcher Riesenwurf, der in
       der Geschichte des Jazz eher zu den Ausnahmen zählt. Der Trompeter und
       Komponist, der 1940 in Mississippi geboren wurde, versammelt in diesem Werk
       21 Kompositionen, die zentralen Ereignissen des US-amerikanischen Civil
       Rights Movement gewidmet sind und auf drei Konzertabende verteilt rund
       fünfeinhalb Stunden Musik ergeben. Vor Kurzem erschienen die „Ten Freedom
       Summers“ als 4-CD-Box.
       
       Angeregt durch die 1977 für den befreundeten Violinisten Leroy Jenkins
       geschriebene Komposition „Medgar Evers: A Love-Voice of a Thousand Year
       Journey for Liberty and Justice“, nahm Smiths Mammutwerk im Verlauf der
       letzten 30 Jahre nach und nach immer größere Ausmaße an. Dabei konzentriert
       er sich auf bestimmte Momente oder Personen der Bürgerrechtsbewegung in den
       USA aus dem Jahrzehnt von 1954 bis 1964 von Martin Luther King über Rosa
       Parks bis zu Emmett Till, einem schwarzen Jugendlichen, der im Alter von 14
       Jahren von Rassisten in Mississippi ermordet wurde.
       
       Smith wuchs selbst in einer stark segregierten Gegend in Mississippi auf,
       seine Kindheitserlebnisse prägten sein Freiheitsverständnis und seine
       politische Haltung: „Wenn ich ein Geschäft betrat, dann folgte mir der
       Ladenbesitzer oder passte auf, dass ich nichts stahl, obwohl ich überhaupt
       kein Dieb war. Dadurch wurde mir klar, dass diese Person ein falsches Bild
       von ihren Kunden hatte. Weiße Männer wurden von ihm nicht überwacht, sie
       galten nicht als Diebe, ich aber schon. Ich habe damals klar erkannt, dass
       dies keine angemessene Art ist, mit anderen Menschen umzugehen, und ich
       beschloss, niemals jemanden so behandeln.“
       
       In Smiths Gedankenwelt nehmen Freiheit und die Rechte des Einzelnen eine
       fundamentale Stellung ein. Jahrelang trug er eine Ausgabe der Verfassung
       der USA bei sich. In seiner Musik kommt das Individuum ebenfalls verstärkt
       zur Geltung. So betrachtet Smith jeden einzelnen Spieler als eine
       eigenständige Einheit: Ob er in seinem Trio Mbira mit Schlagzeug und
       chinesischer Pipa experimentiert, sein gitarrendominiertes
       Jazz-Funk-Ensemble Organic leitet oder, wie in den „Ten Freedom Summers“,
       mit dem Golden Quartet arbeitet, stets interpretiert jeder Musiker die
       Stücke nach individuellem Zeitmaß, seien es nun improvisierte Teile oder
       auskomponierte Passagen.
       
       ## Neue Kammermusik
       
       Die „Ten Freedom Summers“ sind oft nach konventionellen Noten komponiert,
       die Stücke, zum Teil vom Kammerensemble Southwest Chamber Music
       eingespielt, klingen wahlweise nach abstraktem Jazz, harmonisch
       aufgelockertem Blues oder neuer Kammermusik.
       
       Dieser multistilistische Ansatz ohne Berührungsängste gegenüber der
       „zeitgenössischen“ Musik ist charakteristisch für viele der Musiker der
       Chicagoer Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM),
       einer Non-Profit-Organisation zur Förderung des Free Jazz, der Smith seit
       1967 angehört. Besonders eng arbeitete er in der Anfangszeit mit dem
       Saxofonisten Anthony Braxton und dem 2007 verstorbenen Leroy Jenkins
       zusammen.
       
       Smith, der seine Musik im Anschluss an die AACM nicht „free jazz“, sondern
       „creative music“ nennt, entwickelte sogar ein symbolisches
       Notationsverfahren, „Ankhrasmation“, in dem Komposition und Improvisation
       verschmelzen. Dazu verwendet er meist farbige Symbole, die von den Spielern
       in einem komplizierten Verfahren in Musik übersetzt werden: Zunächst
       interpretiert jeder Musiker individuell die Partitur, um auf der Grundlage
       seiner Interpretation Nachforschungen anzustellen.
       
       Liest er gelbe Farbelemente etwa als Bananen, so muss er sich mit der
       Erscheinungsform der Banane beschäftigen, bis hin zu wissenschaftlichen
       Aspekten wie der chemischen Zusammensetzung der Frucht. Die Ergebnisse
       werden anschließend in musikalische Eigenschaften „übersetzt“. Die Spieler
       behalten ihre Interpretation stets für sich, sodass die Summe der einzelnen
       Deutungen den Ensembleklang ergibt.
       
       ## Gegenseitiges Verständnis
       
       Kunst kann, so Smith, auf einer sehr grundsätzlichen Ebene helfen,
       Unterschiede zwischen Menschen zu verstehen: „Kunst demonstriert eine
       riesige Vielfalt an Auffassungen über ein und dieselbe Sache.“ Auch mit
       seinen „Ten Freedom Summers“ möchte Smith zu gegenseitigem Verständnis
       beitragen. Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung ist für ihn daher mehr
       als nur eine historische Episode, sie steht universell für menschliches
       Freiheitsbestreben, das ihm keinesfalls als gesichert gilt. Eines der
       Stücke trägt denn auch den Titel „September 11th, 2001: A Memorial“.
       
       Smith, der mittlerweile in Los Angeles lebt und am California Institute of
       the Arts lehrt, fühlt sich der Chicagoer Musikszene unverändert verbunden.
       Er ist Mitglied der AACM auf Lebenszeit und steht über die Vereinigung, die
       seit den späten Sechzigern Programme zur Nachwuchsförderung anbietet, im
       Austausch mit jüngeren Musikern.
       
       So auch mit der rund 40 Jahre jüngeren Saxofonistin Matana Roberts, deren
       musikalische Herangehensweise einige Parallelen zu Smith erkennen lässt.
       Für ihre großenteils durchkomponierten Stücke nutzt auch sie ein selbst
       entworfenes grafisches Notationsverfahren und weist in ihren
       Kollaborationen eine ähnliche stilistische Vielfalt auf. Neben
       Jazz-Ensembles spielte sie etwa mit der kanadischen Monumentalrockband
       Godspeed You! Black Emperor oder Musikern der Chicagoer Postrocker Tortoise
       zusammen.
       
       Ein über rein ästhetische Anliegen klar hinausgehendes Interesse zeigt sie
       auf ihrem neuesten Album, „COIN COIN Chapter One: Gens de Couleur Libres“,
       das im Titel ein größeres Projekt andeutet und auf dem sie sich mit der
       Geschichte ihrer afroamerikanischen Familie aus Louisiana beschäftigt. Ihre
       Stücke bewegen sich zwischen ritualartig-repetitiven Momenten und
       leidenschaftlichen Ausbrüchen, in denen Roberts nicht nur ihre
       Saxofontechnik, sondern auch ihre Stimme in experimenteller Form zum
       Einsatz bringt.
       
       Smith und Roberts haben zwar noch nicht gemeinsam gespielt, saßen aber
       schon bei Diskussionen zusammen auf dem Podium. Smith lud Roberts, die in
       New York lebt, zudem an das California Institute for the Arts zu Vorträgen
       und Performances ein. „Matana ist ganz bestimmt eine der
       Führungspersönlichkeiten in der heutigen AACM“, so Smith.
       
       Allerdings deutet sich an, dass Roberts sich womöglich langsam neu
       orientiert. Wie sie in einem Interview mit dem US-amerikanischen Magazin In
       These Times zugab, habe sie sich mittlerweile in so viele Richtungen
       entwickelt, dass sie nicht mehr wisse, wo sie hingehöre. Ein assoziiertes
       Mitglied der AACM ist sie aber weiterhin. Und wer weiß: Nachdem die AACM in
       der Vergangenheit von Männern geprägt wurde, wäre es langsam an der Zeit,
       dass jetzt Frauen übernehmen. Smith, dessen Freiheitsbemühungen ebenso
       gegen Rassismus wie gegen Sexismus gerichtet sind, dürfte sich über eine
       solche Entwicklung freuen.
       
       ## Wadada Leo Smith: „Ten Freedom Summers“ (Cuneiform); Matana Roberts:
       „COIN COIN Chapter One: Gens de Couleur Libres“ (Constellation/Cargo)
       
       26 Aug 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
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