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       # taz.de -- Hilfe für Syrien: Europas historische Chance
       
       > Die Untätigkeit des Westens fördert die Radikalisierung des Widerstands
       > in Syrien. Aufzeichnungen und Eindrücke einer Reise an die
       > türkisch-syrische Grenze.
       
   IMG Bild: Von Europa allein gelassen: Zwei Jungen holen Wasser in A'zāz, Syrien.
       
       BERLIN taz | Jahrzehntelang habe ich in meiner Jugend syrische
       Fernsehserien gesehen und syrische Literatur gelesen. Mir zeigte sich eine
       große Kultur mit viel Kreativität, Humor und Aufklärungspotenzial. In
       diesen Monaten wird auch all dies vor den Augen der Weltöffentlichkeit
       vernichtet.
       
       Mit der grausamen Unterdrückung der Bevölkerung durch das Regime werden
       nicht nur Menschleben vernichtet, sondern auch, täglich und stündlich, die
       kulturellen Errungenschaften des besseren, des demokratiefreundlichen
       Syrien.
       
       Seit geraumer Zeit erreichen uns täglich grausame Bilder aus Syrien, dem
       Schauplatz der derzeit weltweit schlimmsten humanitären Krise. Wenige
       Flugstunden von Berlin oder Paris entfernt werden hunderte unschuldige
       Menschen auf fürchterliche Art und Weise gefoltert und ermordet, viele von
       ihnen sind Kinder. Frauen und Mädchen werden vergewaltigt, ganze Dörfer dem
       Erdboden gleichgemacht. Mittlerweile gibt es mehr als 20.000 Todesopfer und
       über 300.000 Vermisste. Ihr einziges „Verbrechen“ ist in den Augen des
       Regimes von Baschar al-Assad das Verlangen nach Freiheit und Demokratie.
       
       Die Rufe nach einem Eingreifen des Westens werden immer lauter. Aber warum
       sollten die Europäer jeden Konflikt in der Welt lösen? Haben sie nicht mit
       der Finanzkrise zu kämpfen? Sind sie nicht mit ähnlichen Missionen in
       Afghanistan und im Irak gescheitert? Warum sollen sie, lautet der Subtext,
       für einen Haufen Araber intervenieren, die einander umbringen?
       
       Einen anderen Klang erhalten diese Fragen, wenn man in der Nähe der
       Leidtragenden ist, sie trifft, spricht, ihnen zuhört. Im Juli bin ich mit
       einer Delegation hochrangiger Experten aus Washington, Brüssel und Berlin
       in die Türkei gereist, wo wir nah der syrischen Grenze Gelegenheit hatten,
       tagelang mit Vertretern der Widerstandsgruppen zu sprechen.
       
       Zu unserer Delegation gehörten Magnus Norell, wissenschaftlicher Leiter des
       schwedischen Instituts für Internationale Angelegenheiten, sowie Alexander
       Ritzmann, Nahostexperte beim Brandenburgischen Institut für Gesellschaft
       und Sicherheit aus Potsdam sowie David Pollock vom Washington-Institut für
       Nahost-Studien. (Aus Sicherheitsgründen dürfen die Namen weiterer
       Teilnehmer nicht genannt werden.)
       
       ## Traumatisierte Rebellen kommen von der Front
       
       Organisiert wurde die Reise von der European Foundation for Democracy, ein
       Thinktank für Menschenrechte in Europa mit Sitz in Brüssel. Unser Ziel war
       es, Vertreter der Oppositionellen sowie Journalisten aus Syrien zu treffen,
       um aus erster Hand zu erfahren, wie sich die politische, militärische und
       vor allem humanitäre Lage vor Ort besser einschätzen lässt. Nach rund 60
       Treffen, unter anderem mit Rebellen, die direkt von der Front kamen, zeigte
       sich uns ein deutliches Bild der komplizierten Gemengelage in Syrien.
       
       Akute, aktuelle Bedürfnisse derer, die gegen Assads Herrschaft kämpfen,
       waren rasch benannt. Journalisten, die wir trafen, hoffen auf Kameras,
       Mobiltelefone, Laptops; abtrünnige Militärs und andere freiwillige Kämpfer
       der Rebellenarmee rufen nach Flugabwehr- und Panzerabwehrwaffen, um sich
       gegen die Attacken der syrischen Armee wehren und Zivilisten schützen zu
       können. Kaum ein Gespräch verging ohne die bittere Frage: „Warum? Warum
       lasst ihr uns im Stich? Warum hilft uns der Westen nicht?“
       
       Jung sind die meisten der Kämpfer, 20 bis 30 Jahre alt. Die Mehrzahl hatte
       vor dem Aufstand Jobs, seit fast 16 Monaten sind sie nur noch in Kämpfe
       involviert. In ihren Augen lassen sich Strapazen und Traumata ablesen, im
       Gespräch wirken sie gleichwohl engagiert und passioniert. Sie wollen
       Freiheit, sie hoffen auf Hilfe und Unterstützung.
       
       Unsere Treffen finden in Cafés und Hotels statt, ins Flüchtlingslager
       werden als Vorsichtsmaßnahme keine ausländischen Gäste eingelassen. Ohne
       Arabisch ist Verständigung fast unmöglich, kaum einer der jungen Leute
       beherrscht fließend Englisch. Wiederholt nannten sie das Bildungssystem
       unter Assad als Ursache dieses Defizits: „Wir fangen in der Schule erst
       spät mit Englisch an, und dann gibt es nur wenige Unterrichtsstunden.“ Vom
       Westen will dieses Regime sie fernhalten. Wie zum Trotz sind die
       demokratisch gesinnten Rebellen westlich gekleidet, schlichte Jeans und
       T-Shirts bilden das übliche Outfit.
       
       ## Sehnsucht nach Demokratie
       
       Sie seien, sagten die jungen Männer, auf die Straßen gegangen, weil sie
       frei sein wollen, weil sie sich nach Demokratie sehnen. „Europa war dabei
       unser Vorbild“, erklärte ein Rebell. „Und wir sind weder Terroristen noch
       sind wir Dschihadisten. Wir wollen Europäer sein!“ Nun allerdings fürchten
       diese moderaten Rebellen das Schlimmste. Die Untätigkeit des Westens auf
       der einen Seite, die brutale Unterdrückung des Aufstands durch das Regime
       auf der anderen sind dabei, genau den Extremismus erst herzustellen, den
       der Westen zu Recht fürchtet.
       
       Groß ist das Unverständnis, heftig das Kopfschütteln bei den
       Aufständischen. Anderen, argumentieren sie, habe Europa doch geholfen:
       „Warum habt ihr in Libyen, in Afghanistan, im Kosovo, im Irak eingegriffen,
       egal was Russland gesagt hat, und jetzt zögert ihr, wenn es um uns geht?“
       So lautet das enttäuschte Leitmotiv der jungen Männer und Frauen, deren
       Land von einem politischen Erdbeben erschüttert wird.
       
       Wir kommen als Beobachter und mit Erkenntnisinteresse, die Stimmung der
       Enttäuschten, aber Entschlossenen vermittelt sich uns rasch. Die
       Erwartungen der abgekämpften Rebellen, denen die Chance zur Demokratie so
       nah schien und dann wieder so fern, sind verständlich. Es geht um ihre
       Existenz, das Leben ihrer Kinder, Frauen, Eltern. Sie wollen das Tor zu
       einer besseren Zukunft aufstoßen.
       
       ## Angst vor den Islamisten im eigenen Land
       
       Allerdings, suchen wir zu erklären, ist die Realität vielschichtig, sie ist
       kompliziert. In ihr kollidieren die legitimen Wunschträume der jungen Leute
       mit der globalen Realpolitik. Wir legen es ihnen dar: Im Gegensatz zu den
       anderen Ländern, die unsere Gesprächspartner verzweifelt als Beispiele
       zitieren, gibt es auf syrischem Boden Armeestützpunkte der Russen, was eine
       militärische Intervention so gut wie unmöglich macht, ohne eine massive
       diplomatische, wenn nicht militärische Krise mit Russland
       heraufzubeschwören. So tragisch es ist: Die Zeit dieser syrischen
       Revolution – denn um eine Revolution handelt es sich – könnte ungünstiger
       kaum sein.
       
       Im Weißen Haus ist man nervös mit den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen
       beschäftigt und will sich keinen neuen außenpolitischen Brandherd zulegen,
       in Europa klaffen die Finanzlöcher in öffentlichen Kassen und Banken.
       Darüber hinaus befürchtet der Westen, sich durch eine militärische
       Intervention ein zweites, explosives Irak zu schaffen, ein Fass ohne Boden.
       Hinzu kommen die Rolle des Iran und des Libanon: Niemand im Westen will
       riskieren, im gesamten Nahen Osten einen regionalen Krieg auszulösen.
       
       „Syrien ist aber anders!“, beharren unsere Gesprächspartner. „Hier
       verlangen wir, die Bevölkerung, nach der Intervention des Westens! Hier
       sind wir ohne jegliche Hilfe von irgendjemanden von außen auf die Straßen
       gezogen, um uns von der brutalen Unterdrückung zu befreien.“ Unumwunden
       erklären viele: „Assad ist ein Krimineller!“ Erstaunlich viele der jungen
       Syrer, die wir hier treffen, sind weltlich orientiert und streben nach
       einem säkularen Syrien. Mit dem Vorbild Europa vor Augen fürchten sie sich
       vor den Islamisten im Land – und die gibt es durchaus. Die Demokraten haben
       Angst davor, was diese Leute aus ihrem Syrien machen könnten.
       
       ## Falscher Helfer
       
       Gewiss sollte man an dieser Stelle nicht naiv sein: Manche der Rebellen
       verfolgen durchaus ihre ganz eigene, andere Agenda. Einer von ihnen, der
       22-jährige Samir aus Aleppo, prahlte laut, sein eigentliches Ziel sei „die
       Befreiung Jerusalems“. Ein weiterer, der sich als Scheich Zoabi, Leiter
       einer Hilfsorganisation in Jordanien zu erkennen gibt, ist um die Mitte
       sechzig, trägt lange, weiße Barttracht, Abaja und das Palästinensertuch.
       Ellenlang referierte er über seine „Hilfsorganisation“ und wie wichtig
       Menschenrechte, Demokratie im künftigen Syrien seien.
       
       Seine Leute brauchten Geld, erklärte er uns. Doch als er mitbekam, dass ich
       palästinischer Herkunft bin, nahm er mich beiseite. Unter vier Augen raunte
       er: „Wenn du mit Europäern sprichst, sei ein Fuchs. Du sollst all diese
       schönen Dinge über Demokratie und Menschenrechte erzählen, doch du weißt ja
       genau wie ich, dass wir davon nichts halten!“ Der Scheich stellte zwar eine
       Ausnahme dar, aber auch die gibt es. Es gilt, mit Expertise zwischen den
       Gruppen zu unterscheiden.
       
       Dass insbesondere Europa damit zögert, den Aufständischen die so notwendige
       humanitäre Hilfe und logistische Unterstützung zu schicken, bestätigt die
       meisten Araber in ihrem Klischeebild von einem Westen, dem es niemals nur
       um Freiheit und Demokratie geht, sondern der immer auch von
       kapitalistischen und kolonialen Motiven getrieben ist. „Da sieht man es
       wieder!“, lautet das Urteil. Konkrete Hilfe würde genau jetzt eine
       Gelegenheit von historischer Dimension eröffnen, diese eingefahrene
       Denkweise aufzubrechen oder sogar umzukehren.
       
       ## Noch kann der Westen Allianzen eingehen
       
       Im Augenblick nutzen Akteure wie Saudi-Arabien, Katar und auch die Türkei
       das entstandene Vakuum, um den Pfad für ihre eigenen, künftigen Interessen
       in einem Syrien nach Assad zu bereiten. Gezielt liefern sie Waffen und Geld
       ausschließlich an ihnen gegenüber loyal eingestellte islamistische Gruppen
       im Spektrum der Rebellion, etwa an die Muslimbruderschaft. Diesen Akteuren
       geht es nicht um Menschenrechte, sondern um die Schwächung des vom Iran
       beeinflussten schiitischen Bundes und die Vision einer
       sunnitisch-islamistisch geführten syrischen Nation. Bei alledem bleiben
       ausgerechnet die besten, liberalen und prodemokratischen Kräfte dieser
       Rebellion der Syrer auf der Strecke, trotz ihrer stimmkräftigen Appelle an
       den Westen.
       
       Chaotische Zustände drohen Syrien schon jetzt zu einem zweiten Irak zu
       machen: Wie ein Magnet zieht die Lage radikale islamistische Gruppen wie
       al-Qaida aus dem Ausland an. Wir erfuhren, dass sie schon mit etwa
       eintausend Leuten ins Land gedrungen seien, dass es täglich mehr werden.
       Augenblicklich sind die Islamisten dabei, dem alawitischen, ihrer Meinung
       nach ungläubigen Regime den „heiligen Krieg“ zu erklären, losgelöst von der
       Mehrheit der demokratiefreundlichen Rebellen, die auf solche „Hilfe“ gut
       verzichten können. Eine deutliche Intervention des Westens würde diese
       Kräfte schnell zurückdrängen.
       
       Und noch andere Kräfte sehen scharf hin. Der Iran und die
       Terrororganisation Hisbollah haben die strategische Bedeutsamkeit der Lage
       erkannt. Sie unterstützen Assad finanziell und schicken Kämpfer – obwohl
       sie damit Sympathien in den meisten muslimischen Ländern verspielen und im
       Fall eines von Sunniten dominierten Syrien der Lieferweg für Waffen an die
       Hisbollah im Libanon abgeschnitten wäre, was den iranischen Einfluss in der
       Region mindern würde. In ihrer Siegesgewissheit riskieren sie allerhand.
       
       Hier herrscht enorme politische Polyfonie, und die Stimmen dieses
       Orchesters auseinanderzuhalten erfordert feinstes Gehör. Gewänne das
       demokratische Syrien, wäre jedoch die Voraussetzung für eine neue
       Stabilität im Nahen und Mittleren Osten geschaffen, auch ein Gegengewicht
       zu den gerade entstehenden islamistischen Regierungen der Region.
       
       Es ist spät, sehr spät. Aber noch nicht zu spät für den Westen, seine
       Verantwortung zu erkennen und zu übernehmen. Ein demokratisches Syrien wird
       nicht von allein entstehen und nicht durch Sanktionen, die die Bevölkerung
       verbittern. Es braucht jetzt Hilfe, und es wird intensive Hinwendung beim
       Aufbau einer demokratischen Infrastruktur benötigen. Allein der Westen
       kann, mit kluger Weitsicht, die liberalen, konstruktiven Kräfte
       herausfiltern, sie bestärken und fördern. Sie sind im Moment noch die
       Mehrheit. Und noch kann der Westen demokratische Allianzen mit ihnen
       eingehen, die auf die Orientierung der gesamten Region ausstrahlen.
       
       21 Aug 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ahmad Mansour
       
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