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       # taz.de -- ZEHN JAHRE GOLDEN GATE: "In Berlin ist Feiern Menschenrecht"
       
       > Die Golden-Gate-Betreiber Reimund Spitzer und Hubertus von Strachwitz
       > über endlose Partys und ekstatische Touristen.
       
   IMG Bild: Sie kommen gerade zu sich selbst: Feiernde in Berlin.
       
       Freitagnachmittag um fünf bedanken sich die letzten Gäste für die schöne
       Party. Jetzt bleibt die Tür des Golden Gate für ein paar Stunden zu. „Ich
       steh nicht auf Clubs, in denen man das Gefühl hat: Kaum wird an der Bar
       nichts mehr konsumiert, heißt es schon ’Verpisst euch alle‘. Der Rubel
       rollt nicht mehr. Raus! Die Leute haben den ganzen Abend Geld bei uns
       gelassen, und dann sollen sie auch noch mal ein Stündchen oder zwei bei uns
       weiter feiern dürfen. Und das raffen die Leute eben auch“, sagt Hubertus
       von Strachwitz, einer der beiden Betreiber des Golden Gate.
       
       „Die Partys dauern immer länger. Ich weiß noch, in den Neunzigern gab es so
       Afterhours. Zum Beispiel im alten Kitkat, als es noch in der Glogauer
       Straße war. Da hab ich noch mitgekriegt, wie die Verstrahlten auf dem
       Bürgersteig herumstehen“, ergänzt sein Kollege Reimund Spitzer. Von
       Strachwitz sagt: „Damals ging man halt woandershin zur Afterhour. Heute ist
       die Afterhour inbegriffen, sie gehört zur Party mit dazu.“ Vielleicht
       sollte man einen Laden aufmachen, der von Montag bis Donnerstag nur
       tagsüber auf hat, überlegt Spitzer.
       
       Wir sitzen im Garten des Clubs an der Jannowitzbrücke, der in einem
       Brückenpfeiler der Stadtbahn residiert. Im Takt der Ampelschaltung schwillt
       der Lärm des Verkehrs an und ab. Es wird Rhabarberschorle getrunken, Red
       Bull, Wodka und Bier. Von Strachwitz hat als Türsteher angefangen, im Exit,
       im lange schon abgerissenen Ahornblatt, in dem sich zuvor ein
       Fischrestaurant befunden hatte. Spitzer hatte mal Philosophie studiert und
       in einer Band gespielt. Später betrieb er eine Mittwochsbar. Beide sind in
       Metal-T-Shirts zum Interview erschienen. Spitzer trägt weiße Totenköpfe auf
       schwarzem Grund, von Strachwitz das Metallica-Shirt zur „Kill ’em All“-Tour
       von 1983. Ein Hund ist auch dabei. Er heißt Josef, wird aber meist Seppel
       gerufen.
       
       taz: Herr Spitzer und Herr von Strachwitz, wie habt ihr euch kennengelernt? 
       
       Hubertus von Strachwitz: Die Leute, die früher das Lovelite in der
       Simplonstraße gemacht haben, haben uns zusammengebracht.
       
       Reimund Spitzer: Unsere Vorfahren kommen aus dem ehemaligen preußischen
       Regierungsbezirk Oppeln. Ein Cousin meiner Großmutter mütterlicherseits war
       Förster bei einem Grafen von Strachwitz. Es gibt also familiäre
       Verbindungen aus dem Jahre 1900. Wir waren das Fußvolk. Ein Ururururopa von
       Hubi war das Patenkind von Friedrich dem Großen.
       
       In der Demokratie betreiben die Nachfahren gemeinsam einen Technoclub. 
       
       Spitzer: Ich war auf der Suche nach einem Partner, und die wussten, dass
       Hubi auch schon lange auf der Suche war. Ich war mit meinem damaligen
       Partner an einem toten Punkt. Wir sind mit dem Golden Gate zum ersten Mal
       aufgeflogen, und dann ging’s darum: Machen wir hier überhaupt weiter, lohnt
       sich das? Mein Partner ist damals ausgestiegen. Das war für mich dann die
       Entscheidung: Legal werden, die ganzen Anforderungen erfüllen, ohne
       besonderes Kapital zu haben, und das durchziehen. Die eine Party am
       Wochenende hat die Baustelle für die nächste Woche finanziert.
       
       Wie kommt man dazu, einen Club zu gründen? 
       
       Spitzer: Wir haben damals im Grunde einen Laden gemacht, weil es keinen
       gab. Das war die Zeit des Interregnums. Viele Läden hatten zugemacht, es
       kam nichts Neues, und die Leute wussten nicht mehr, wo sie hingehen
       sollten. Das E-Werk gab’s nicht mehr, das WMF hatte mal wieder eine Pause.
       Tresor war auch nicht mehr so. Das Cookies war keine richtige Alternative.
       Man merkte, da fehlt was, auch im Freundeskreis. „Wo gehen wir hin? – Keine
       Ahnung.“ Die ersten Jahre nach 2002 waren wir noch kein Technoladen. Wir
       haben alles Mögliche gemacht: Rock-’n’-Roll-Konzerte, Electroclash, und
       irgendwann haben wir angefangen mit Afterhours. Das war schon eine
       Weichenstellung, weil die Leute, die auf so eine Form von Partys stehen,
       mit allem anderen nicht klarkommen. Und da das gut funktioniert hat,
       mussten wir uns nach unserem Publikum richten.
       
       Wer sind eure Gäste? 
       
       Spitzer: Die sind ziemlich unterschiedlich, aber man könnte sagen: Es sind
       Spinner – aber die Sorte Spinner, die wach und offen sind, hellsichtig
       geradezu, die mehr mitkriegen von der Welt, die mehr sehen als andere
       Leute. Also die liebenswerte, fast schon schlaue Art von Spinnern.
       
       Die Touristen wollen feiern, weil man in Berlin so gut feiern kann. Aber
       wenn so viele Touristen kommen, was heißt dann feiern? Tobias Rapp hat in
       seinem Buch geschrieben, dass die Szene durch Touristen gerettet wurde. 
       
       Spitzer: Da lehnt er sich ziemlich weit aus dem Fenster, mit dieser
       griffigen These.
       
       Von Strachwitz: Damit wurde bloß die Größe der Szene gerettet, weil die
       Vielzahl der Clubs nur überleben kann, wenn die Touristen kommen.
       
       Spitzer: Das ist natürlich die Antithese zu der weit verbreiteten
       Auffassung „Touristen sind scheiße“. Die Wahrheit liegt irgendwo
       dazwischen. Im Feiern hat Berlin weltweit ein Alleinstellungsmerkmal. In
       Los Angeles oder San Francisco kann man nicht wirklich feiern gehen. Da ist
       die Party spätestens um vier vorbei. Ekstase ist die eine Seite. Aber das
       hat hier auch noch eine ganz andere Funktion. Im angloamerikanischen
       Kulturkreis geht es beim Weggehen hauptsächlich ums Sehen und
       Gesehenwerden. Das Besondere an der Berliner Art zu feiern kann ich seit
       den Achtzigern nachvollziehen, und sie muss es schon davor gegeben haben.
       Man geht feiern, um zu sich selbst zu kommen. Um auf eine Idee zu kommen.
       Um nachzudenken. Das ist vielen Leuten in anderen Ländern total fremd.
       
       Spitzer: 2006 ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass auch Touristen zu
       uns kommen. Da waren das vielleicht noch 20 Prozent. Heute kommt es auf die
       Uhrzeit und auf den Tag an. Vom Anfang des Abends bis um vier hast du bis
       zu 90 Prozent Touristen. Gegen Morgen kommen die Berliner. Die waren noch
       woanders oder zu Hause.
       
       Von Strachwitz: Es gibt auch Tage, wo man bis fünf oder sechs Uhr denkt,
       heute wird’s ein lauer Abend. Und auf einmal, um sechs, macht es Rums, und
       der Laden platzt aus allen Nähten.
       
       Wie finden Touristen ins Golden Gate? 
       
       Spitzer: Wir versuchen, möglichst unter dem Radar zu bleiben. Uns gibt es
       nicht in Magazinen, wir sind auch nicht im 030. Als wir gemerkt haben, dass
       der Tip unsere Termine druckt, haben wir angefangen, sie erst drei Tage im
       Voraus auf unserer Website zu veröffentlichen.
       
       Von Strachwitz: Wenn ich nach Barcelona fahre, bin ich nicht plötzlich ein
       Arschloch, nur weil ich Tourist bin. Entweder ich bin hier schon ein
       Arschloch, dann bin ich auch da ein Arschloch, oder eben nicht.
       
       Spitzer: Wenn man sich sein Publikum aussuchen könnte, würde man sich
       natürlich am liebsten viele schrille Leute aus der ganzen Welt
       zusammensuchen. Die alle irgendwie cool und offen sind. Das ist ja das, was
       man so gerne hat: dass Leute aus einer anderen Welt kommen und kapieren,
       ah, hier gehen die Uhren irgendwie anders. Man merkt, dass Leute, die schon
       ein paar Wochen oder Monate hier sind, verstehen, dass es hier ganz anders
       funktioniert. Das ist irgendwie geil.
       
       Lasst ihr jeden rein? 
       
       Spitzer: In Berlin ist Feiern noch ein Menschenrecht. Das ist ein ganz
       wichtiger Aspekt. Alle dürfen teilnehmen. Es wird keiner ausgeschlossen.
       Man versucht aber, an der Tür Leute zu vermeiden, bei denen man denkt, das
       gibt irgendwann Stress. Die sind jetzt vielleicht noch ganz sanft, weil sie
       reinwollen, aber es gibt irgendwann Stress. Das ist eine Risikoabschätzung.
       
       Von Strachwitz: Oder Leute, bei denen man das Gefühl hat, die bringen gar
       nichts für die Party. Es gibt Leute, die geben was zu einer Party dazu, die
       machen Spaß. Und dann gibt es halt Leute, die saugen die Party nur aus,
       geben also selbst nichts dazu.
       
       Spitzer: Man braucht Exhibitionisten und Voyeure. Aber es muss im
       Gleichgewicht bleiben.
       
       Die Politik wird viel kritisiert in Sachen Clubkultur. Was müsste anders
       gemacht werden? 
       
       Spitzer: Man kommt mit den Berliner Behörden eigentlich sehr gut zurecht,
       wenn denen klar ist, dass man selbst auch nur so ein kleiner Wicht ist, der
       versucht, irgendwie durchzukommen. Und nicht der Investor mit dem großen
       Geld, der alles kaufen kann. Die wollen ja auch was machen und entscheiden.
       Und wenn dann so ein Investor mit dem dicken Geld kommt, dürfen die das
       auch nur schlucken.
       
       Den Eindruck hat man in den Neunzigern auch in Mitte gehabt, dass der
       Bezirk die korrekten Leute unterstützt hat. 
       
       Spitzer: Ich fände wichtig, dass die Bedeutung der Clubs verstanden wird.
       Ich glaube, das ist bei vielen Leuten auch angekommen. Das sieht man
       aktuell an der Auseinandersetzung mit der Gema, da ist der Berliner Senat
       auf der Seite der Clubs.
       
       Von Strachwitz: Für mich ist das ein Lippenbekenntnis: Wir unterschreiben
       mal ’ne Petition. Sorry, ihr habt da ganze andere Möglichkeiten. Aber dass
       hier ein Clubsterben losgehen wird, das bezweifle ich.
       
       Spitzer: Das bezweifle ich auch. Aber irgendwo muss das Bewusstsein dafür
       geschaffen werden, wie man feiern kann. Bar25 und Berghain sind für die
       Politik so wichtig, weil sie für die Strahlkraft nach draußen stehen. Wir
       aber sagen, das Ganze würde gar nicht passieren ohne die Basis. Die Leute,
       die gehört haben, Bar25 oder Berghain, das sind die wichtigen Orte, die
       werfen da vielleicht mal einen Blick rein und sind beeindruckt. Aber das
       heißt noch nicht, dass ein Bewusstsein dafür da ist, was Feiern alles sein
       kann. Und dafür braucht man einen gewissen Bodensatz an Orten, wo das noch
       gemacht wird.
       
       Der letzte Gast, ein Schauspieler aus Essen: Darf ich als Gast was sagen?
       Heute Abend wurde Tschechisch, Russisch, Englisch, Spanisch gesprochen. Ich
       bin mit Leuten in Kontakt gekommen, mit denen ich normalerweise gar nicht
       sprechen würde. Dieser Raum ist sonst gar nicht da, ein Grundbedürfnis
       menschlichen Zusammenlebens zu erkennen, was heißt: gegenseitiger Respekt,
       Aufmerksamkeit, aufeinander aufzupassen, miteinander aber auch exzessiv zu
       feiern. Es kann sein, dass wir nur fünf, sechs, sieben Jahre unserer Jugend
       damit verbringen, diese Kultur zu leben, bevor wir Kinder haben, bevor wir
       ’ne Frau kennenlernen, uns sesshaft machen. Aber es bildet uns im
       menschlichen Sinne. Früher sagten die Leute, ich war in der Armee, und da
       hab ich gelernt, wie es ist, mit dem Leben umzugehen. Ich war im Golden
       Gate und habe gelernt, wie es ist, mit Leuten zu reden.
       
       Spitzer: Die Partys sind die Schule der Nation!
       
       Von Strachwitz: Das hat sich auch verändert. Früher ging man mit seiner
       Posse aus. Heute gehen viele Leute allein los.
       
       Der Gast: Ich gehe nur allein los!
       
       Von Strachwitz: Weil es viel witziger ist, man lernt neue Leute kennen. Das
       hat der Techno, wahrscheinlich durch den Einfluss von Ecstasy – wir haben
       uns alle lieb – stark geändert, dass viel mehr Kommunikation stattfindet,
       fremde Leute zusammenkommen auf Partys.
       
       Der Gast: Dieses Gefühl trag ich in den Alltag hinaus, und es nützt mir
       was. Den Leuten erst mal in die Augen zu gucken, wenn ich die treffe, und
       zu sagen: Hallo, ick bin der und der, und wat machst du so? Du kannst nicht
       sein ohne mich, ich kann nicht sein ohne dich. Es ist ein Geben und Nehmen,
       und das lern’ ich hier in einer Weise kennen, die einfach schau ist, und
       dafür kann ich nur danke sagen. Und deswegen fege ich hier und freue mich.
       
       Du hast durchgefeiert und bist spontan zum Fegen hiergeblieben? 
       
       Der Gast: Ich hab gesagt, ich will für das, was ich hier erlebt habe – und
       das waren acht Stunden Feierei und Hände hoch und T-Shirt aus und
       Mitpfeifen und Klatschen, wenn der DJ das Ding hochpitcht – danke sagen.
       Danke ist ein Wort, das man nicht oft genug sagen kann.
       
       Spitzer: Die Basis ist die kollektive Ekstase. Das ist der Pilz, das
       Rhizom, aus dem das alles rauswächst.
       
       Der Gast: Ich habe heute Abend zwölf Zigarettenschachteln gezogen.
       
       Von Strachwitz: Das schaff nicht mal ich!
       
       Der Gast: Wer keine Zigarette hat, kriegt von mir erst mal eine
       angeboten.Und wenn er sie nimmt, dann geb ich ihm Feuer und freue mich,
       dass er sich freut. Ich will Freude geben. Es ist mir aber auch möglich,
       finanziell gesehen. Zu sagen, ich lade dich ein auf ’nen Jägermeister.
       
       Spitzer: Du bist finanziell privilegiert, und gibst das weiter, und andere
       sind nicht privilegiert und profitieren davon.
       
       Der Gast: Reimund, genau das will ich in alle Köpfe kriegen: Wenn du was
       hast, gib es weiter! Teile es, und dann ist es doppelt so viel.
       
       Spitzer: Amen.
       
       17 Aug 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Detlef Kuhlbrodt
   DIR Ulrich Gutmair
       
       ## TAGS
       
   DIR Clubszene
   DIR 90er Jahre
       
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