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       # taz.de -- Prozess gegen russische Musikerinnen: Wie viel Punk steckt in Pussy Riot?
       
       > Am Freitag fällt in Moskau das Urteil im Prozess gegen Pussy Riot.
       > Musikerinnen sind sie nur am Rande, viel mehr haben sie mit der
       > russischen Aktionskunst zu tun.
       
   IMG Bild: Nur am Rande Musikerinnen: Pussy Riot bei einer Performance auf dem Roten Platz in Moskau.
       
       Die Deutsche Welle leitete ein Interview mit Pussy Riot im November letzten
       Jahres mit der These ein, die Aktivistinnen würden maximal schlecht singen,
       um ihrer Kommerzialisierung zu entgehen. Gegen den Aufstieg zu weltweiter
       Popularität von drei der jungen Frauen, über deren sogenanntes „Punkgebet“
       vom 21. Februar in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale heute der
       Richterspruch fällt, hat’s nicht geholfen.
       
       Angesichts des erwarteten Schuldspruchs mag die Bemerkung hämisch klingen,
       dass die meisten Musiker mit der gegenteiligen Strategie, maximal gute und
       innovative Musik zu machen, bei der Vermeidung ihrer Kommerzialisierung
       sehr erfolgreich sind. Die „Punkband“ Pussy Riot wurde allerorts als neue
       Sensation des musikalischen Undergrounds Russlands gefeiert wird. Aber was
       hat sie eigentlich mit Musik, mit Punk im Besonderen, zu tun?
       
       Erst einmal sehr wenig. Denn die Auftritte von Pussy Riot fanden nie in
       Clubs oder Konzerthallen statt, sondern im öffentlichen Raum, wo sie beim
       Zuschauer für Überraschung, bei Sicherheitskräften für Verärgerung sorgen
       mussten. Diese Guerillataktik setzt Schnelligkeit voraus, die der
       musikalischen Performance Einschränkungen auferlegt.
       
       Gemäß der Anklageschrift gegen Pussy-Riot-Mitglied Nadeschda Tolokonnikowa
       hat sie in der Kathedrale ein Mikrofon angeschlossen und eine Aufnahme des
       Songs „Muttergottes, verjage Putin“ abgespielt, während es ihrer
       Mitstreiterin Jekaterina Samusewitsch gelang, kurz auf ihrer nicht
       verstärkten E-Gitarre zu spielen. Ihr Ziel war, möglichst viel Material für
       den nachvertonten Videoclip zu ergattern. Die Unmittelbarkeit musikalischer
       Performanz spielte im multimedialen Aktionskunstkonzept von Pussy Riot
       nicht die Hauptrolle.
       
       ## Virile Ausstellung weiblicher Rachegelüste
       
       Auf einen eigenen Stil kam es auch nicht an. In ihrem ersten Song „Befreie
       den Pflasterstein“, den die Band im November 2011 in der Moskauer U-Bahn
       spielte, wurde der Text über ein achttaktiges Sample aus dem
       Oi-Punk-Klassiker „Police Oppression“ der britischen Band Angelic Upstarts
       geschrien. Damit wiederholte Pussy Riot, was die US-Riot-Grrl-Bewegung
       bereits in den 90ern getan hatte: Sie eigneten sich die Musik
       proletarischer, männlich dominierter Subkulturen an. Und stießen damit,
       wegen der virilen Ausstellung weiblicher Rachegelüste (etwa in ihrem
       Albumtitel „Ubei sexista“ – „Töte den Sexisten“), in feministischen Kreisen
       auf viel Kritik.
       
       Andererseits aber – und insofern könnte man Pussy Riot schon eher als
       Punkband betrachten – war Punk immer schon Entgrenzung von Musik. Der
       initiale Befreiungsakt von Punk war und wird immer bleiben, dass Leute zu
       Instrumenten greifen, die sie nicht spielen können. Malcom McLaren etwa,
       der die Unterschichtenkids der legendären Punkband Sex Pistols
       zusammencastete, war zuvor Kunststudent und Mitglied der situationistischen
       Künstlergruppe King Mob.
       
       Der „wahre Punk“ war schon früh vom Fake kaum zu unterscheiden. Das hatte
       viel mit multimedialen Strategien zu tun – schon vor den heute grenzenlosen
       Selbstvermarktungsmöglichkeiten des Web 2.0. Die Sex Pistols etwa vereinten
       zum 25-jährigen Thronjubiläum der britischen Königin Punk mit einer Art
       Aktionskunst: Die Band mietete ein Boot namens „Queen Elizabeth“ und
       performte dort den Song „God Save the Queen“ – gereimt darauf die Zeile
       „Fascist Regime“. Auf einen solchen Publicity-Stunt kann man die
       Provokationen von Pussy Riot jedoch nicht reduzieren.
       
       ## Prozesse und Volkshelden
       
       Die eigentliche Erklärung des Phänomens Pussy Riot liegt in der Geschichte
       der radikalen russischen Aktionskunst seit Anfang der 90er Jahre. Eine
       frühes Beispiel dafür ist eine Aktion der Gruppe „Enteignung des
       Territoriums der Kunst“: Der Künstler Anatoli Osmolowski, seine Mitstreiter
       und einige in einem Park aufgelesene Punks legten 1991 mit ihren Körpern
       auf dem Pflaster des Roten Platzes die drei Buchstaben des schlimmsten
       russischen Schimpfworts.
       
       Zwar konnte man von der Aktion in der Zeitung lesen, es wurde auch wegen
       „Störung der öffentlichen Ordnung“ ermittelt, aber der Vorgang war schnell
       wieder vergessen. Während der Jelzin-Ära erzielten solche Kunstaktionen
       keine anhaltende gesellschaftliche Resonanz – und so richteten sie sich im
       Grunde an den Kunstbetrieb. Das änderte sich bei Putins Machtübernahme Ende
       der 90er: Seitdem ist der repressive politische Gegendruck da, und damit
       auch die (mediale) Öffentlichkeit.
       
       Im Dezember 1998 wurde erstmals ein Künstler wegen Verstoßes gegen Paragraf
       282 des russischen Strafgesetzbuches – Schüren von Hass gegen eine soziale
       Minderheit – angeklagt: Awdei Ter-Oganjan. In seiner Aktion „Junger
       Gottloser“ hatte er gegen ein Entgelt die Schändung günstiger
       Reproduktionen von Ikonen angeboten und vollzogen. Ter-Oganjan entzog sich
       der Anklage durch Flucht ins Prager Exil, wo er heute noch lebt. 2005 und
       2010 wurden mit den Schuldsprüchen gegen die Ausstellungsmacher von
       „Achtung, Religion!“ und „Verbotene Kunst“ Werke beziehungsweise deren
       Ausstellung rechtskräftig als extremistisch eingestuft.
       
       Die andere Seite der Medaille ist, dass Aktionskünstler seit der
       autoritären Wende in Russland mit Hilfe des Web 2.0 zu karnevalesken
       Volkshelden aufsteigen können. So etwa die radikale Künstlergruppe Woina
       mit ihrer Aktion „Schwanz, in Gefangenschaft beim FSB“, in der sie 2010 mit
       Leuchtfarbe einen etwa 60 Meter hohen Phallus auf die sich aufrichtende
       Liteiny-Brücke nahe dem Geheimdiensthauptquartier in Petersburg malten.
       
       Die Pussy-Riot-Mitglieder Tolokonnikowa und Samusewitsch gehörten dem
       Moskauer Zweig der Gruppe Woina an. 2008 beteiligte sich Tolokonnikowa an
       einer Aktion im Staatlichen Biologischen Museum: An der Seite von anderen
       Paaren hatte sie vor der Kamera Sex mit ihrem Mann Pjotr Wersilow. Die
       dabei verwendete Losung „Ficke für den Nachfolger des Bärchens“ nahm den
       Putin-Stellvertreter Dmitri Medwedjew („Medwed“ ist das russische Wort für
       Bär) und die staatlichen Fruchtbarkeitskampagnen Russlands aufs Korn.
       
       ## Vorläufer des „Punkgebets“
       
       Beim Prozess gegen die Ausstellung „Verbotene Kunst“ im Mai 2009
       beteiligten sich Tolokonnikowa und Samusewitsch an einem Punkkonzert im
       Gerichtssaal. Diese Aktion muss als direkter Vorläufer des „Punkgebets“ von
       Pussy Riot gesehen werden – gemeinsam mit einer Performance der
       ukrainischen Gruppe Femen. Deren barbusigen Feministinnen waren im Dezember
       2011 vor dem Eingang der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche aufgetaucht und
       hielten Plakate mit der Aufschrift „Gott, verjage den Zaren“ hoch. Eine
       Solidaritätsaktion für die Freiheitsbestrebungen im russischen Volk –
       mitten in der aufgeheizte Stimmung wegen der Wahlfälschungen bei der
       russischen Abgeordnetenhauswahl im Dezember 2011.
       
       Das eminent politische Schaffen von Pussy Riot, das nur vier Monate lang
       währte, verknüpfte sich schnell mit den massiven Protesten gegen diese
       Fälschungen. So spielte die Gruppe Mitte Dezember auf einem Garagendach mit
       Blick auf das Gefängnis, in dem Hunderte Teilnehmer einer oppositionellen
       Kundgebung eingesperrt waren, den Song „Tod dem Gefängnis, Freiheit dem
       Protest“. Und als der orthodoxe Moskauer Patriarch Kyrill seine Gläubigen
       dazu aufforderte, lieber an Reliquienverehrungen als an
       Oppositionsdemonstrationen teilzunehmen, war das für die Gruppe der
       unmittelbare Anlass für ihre Aktion in der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche.
       
       Dennoch leugnet die Anklage im Pussy-Riot-Prozess jedes politische Motiv
       des „Punkgebets“. Auch Richterin Marina Syrowa ließ keine Zeugen der
       Verteidigung zu, die die Handlungen der Pussy-Riot-Frauen in den Kontext
       von Aktionskunst oder politischem Aktivismus gestellt hätten. Die Anklage
       versucht, eine enge Sichtweise des Geschehens durchzudrücken: Das Gehopse
       und Gefluche der Frauen – der Refrain ihres Songs besteht aus der
       Wiederholung des Fluchs „Heilige Scheiße“ – habe die Gefühle der Gläubigen
       in der Kathedrale verletzt. Was Hass gegen die Angehörigen der orthodoxen
       Religionsgemeinschaft als Motiv für ihr Verhalten belegen soll – und somit
       einen Verstoß gegen Paragraf 213 des russischen Strafgesetzbuches (Störung
       der öffentlichen Ordnung).
       
       Der bisherige Prozessverlauf lässt befürchten, dass die Handlungen von
       Pussy Riot in der Moskauer Kathedrale in weiten Teilen der russischen
       Gesellschaft nicht als Punkkonzert oder politische Kunstaktion, sondern als
       gerecht bestrafte Gotteslästerung in Erinnerung bleiben werden.
       
       Der Autor ist Slawist an der Universität Zürich.
       
       17 Aug 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Matthias Meindl
       
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