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       # taz.de -- (ÜBER)LEBEN IN BERLIN (TEIL 7): "Mit dem Rücken zur Wand"
       
       > Peter M. ist freischaffender Schlagzeuger. Er mag seine Arbeit, leidet
       > aber unter Existenzängsten. Seine Selbsteinschätzung: mittelloser
       > Akademiker.
       
   IMG Bild: "Wenn man sein Hobby zum Beruf macht, hat man keine Hobbys mehr."
       
       Wie heißen Sie? 
       
       Das möchte ich nicht sagen. Nennen Sie mich Peter M. Peter ist gut, so
       heißt auch der Schlagzeuger von Helge Schneider.
       
       Seit wann leben Sie in Berlin? 
       
       Ich lebe seit September 1997 hier, seit 15 Jahren also. Ich bin aus
       Süddeutschland zum Studium nach Berlin gekommen.
       
       Würden Sie gern woanders wohnen? 
       
       Nein. Ich kann auch wegen meines Kindes nicht weg aus Berlin.
       
       Wo arbeiten Sie? 
       
       Hier und da, überall und nirgends wirklich. Als freiberuflicher Musiker
       arbeite ich, wo gerade Not an Mann ist. Das heißt: Manchmal brauchen
       Orchester für ein bestimmtes Programm mehr Musiker, als sie Angestellte
       haben. Oder es fällt ein Angestellter wegen Krankheit aus. Dann rufen sie
       freie Musiker an.
       
       Haben Sie mehr als einen Job? 
       
       Ich habe als Musiklehrer an einer freien Musikschule unterrichtet. Aber das
       hat sich nicht gelohnt, da bin ich nach Abzug der Fahrtkosten auf einen
       Stundenlohn von 5 Euro gekommen. Außerdem wird man in den Ferien, bei
       Krankheit und bei Absage des Schülers nicht bezahlt. Selbst wenn ich
       Vollzeit als Musiklehrer arbeiten würde, käme ich nicht auf ein
       befriedigendes Monatseinkommen.
       
       Wie kamen Sie zu Ihrem Job? 
       
       Ich komme aus einer musikalischen Familie. Schon im Kindergarten habe ich
       angefangen, Klavier zu spielen. Irgendwann kam das Schlagzeug dazu, da war
       ich 12 oder 13. Dann hatte ich fast jeden Tag Bandproben mit Orchestern,
       Big Bands, Rock- und Jazzbands. Das hat mich extrem geprägt. Nach dem
       Abitur kam dann die Frage: Ja, was mache ich? Da habe ich mir gesagt: Jetzt
       versuche ich das mal. Ich übe mal ein bisschen für eine Aufnahmeprüfung,
       und wenn es funktioniert, dann mach ich es. Wenn es nicht funktioniert,
       dann mach ich halt was anderes. Tja, und dann hat es funktioniert. Ich habe
       1997 einen Studienplatz an der Hochschule für Musik Hanns Eisler bekommen.
       Das war toll. Anfangs sah es sogar so aus, als würde das mehr werden als
       eine Karriere im Orchester.
       
       Welche Qualifikation haben Sie für Ihren jetzigen Job? 
       
       Viele studieren ja auf eine Stelle in einem Orchester hin. Das habe ich
       nicht gemacht. Im Nachhinein war das wohl ein Fehler, denn außer Orchester
       und Musikschule gibt es keine festen Jobs für Musiker. Andererseits kenne
       ich auch im Orchester wenige fest angestellte Musiker, die glücklich sind.
       
       Würden Sie gern eine andere Arbeit machen? 
       
       Es gibt immer wieder Zeiten, in denen ich denke, ich würde gern etwas
       anderes machen. Es ist ein Problem, wenn man sein Hobby zum Beruf macht.
       Erstens hat man dann keine Hobby mehr. Und zweitens ist es umso
       frustrierender, wenn es nicht läuft. Man steckt da so viel Herzblut rein,
       und wenn dann die Auftragslage schlecht ist, kann einem das sehr zu
       schaffen machen.
       
       Würden Sie gern in einer anderen Form arbeiten? 
       
       Die Festanstellung im Orchester ist auch kein Zuckerschlecken. Und
       eigentlich will ich auch nicht berühmt sein. Wenn ich abends auf ein Bier
       in die Kneipe gehe, dann will ich auch einfach mal meine Ruhe haben. Aber
       ich habe mir schon überlegt, vielleicht irgendwas zu machen, wo regelmäßig
       Geld reinkommt. Einen Nine-to-Five-Job. Aber das müsste schon irgendwas mit
       Musik zu tun haben. Vielleicht so etwas wie Musikmanagement.
       
       Haben Sie einen Arbeitsvertrag? 
       
       Das ist unterschiedlich. Manchmal bekommt man einen Rahmenvertrag, in dem
       steht, wie man bezahlt wird. Meistens bekommt man aber keinen Vertrag,
       sondern weiß, wie der Auftraggeber pro Probe und Konzert zahlt. Man
       schreibt eine Rechnung und bekommt sein Honorar.
       
       Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus? 
       
       Ich übe viel. Wenn ich Aufträge habe, ist es meistens so: Ich bringe mein
       Kind in den Kindergarten, die ersten Proben beginnen gegen 10 Uhr. Dann
       habe ich Pause, am Nachmittag habe ich noch eine Probe, dann hole ich mein
       Kind wieder ab. Wenn ich Konzerte habe, muss ich mir die immer auf Abende
       lege, an denen mein Kind bei seiner Mama ist.
       
       Welche Tätigkeiten verrichten Sie? 
       
       Ich habe klassisches Schlagzeug studiert, also alles außer Drumset, wie man
       das aus dem Jazz oder der Popularmusik kennt. Also: Pauken, Stabspiele wie
       Xylophon, Marimbaphon, Vibraphon und andere Melodieinstrumente, alle
       möglichen Trommeln, Kleininstrumente wie Triangel, Maracas und
       Effektinstrumente, die selten vorkommen – da gibt es durchaus so seltene,
       dass man manchmal im Lexikon nachschauen muss. Im Studium habe ich gern
       solistisches Schlagzeug gespielt. Aber ich bin kein Spezialist. Ich kann im
       Prinzip alles gleich gut abdecken.
       
       Ist Ihre Arbeit körperlich oder geistig anstrengend? 
       
       Ja. Das hängt natürlich vom Stück ab. Zum Beispiel gibt es ein Stück von
       Bruckner, da kommt nur ein Beckenschlag vor. Da wartet man halt auf diesen
       einen Schlag, und das ist natürlich weder geistig noch körperlich
       anstrengend. Man muss nur aufpassen, dass man nicht einschläft. In der
       moderneren Literatur gibt es aber viel „schwarze Kunst“, das heißt, da
       stehen so viele Noten auf den Seiten, dass man sich manchmal mit dem
       Taschenrechner hinsetzen und die Einsätze genau ausrechnen muss. Außerdem
       muss man ziemlich viel auswendig lernen, weil man nicht gleichzeitig auf
       Dirigent, Instrument und Noten achten kann. Es ist schon ein Beruf, der
       sehr viel Konzentration verlangt. Und bei Sachen, die schnell und laut
       gespielt werden, da hat es auch viel mit Sport zu tun.
       
       Fühlen Sie sich nach der Arbeit erschöpft? 
       
       Auf eine sehr angenehme Art.
       
       Fühlen Sie sich manchmal überfordert? 
       
       Das kann manchmal vorkommen, bei neuen Projekten. Da steht man manchmal wie
       der Ochs vorm Berg.
       
       Was mögen Sie an Ihrer Arbeit? 
       
       Das Musikmachen an sich. Ich mag auch manches an der Flexibilität: dass ich
       nicht jeden Morgen denselben Weg zum Büro zurücklegen muss und weiß, dass
       ich das noch die nächsten 30 Jahre bis zur Rente machen muss. Ich mag es
       schon, immer neue Leute zu treffen – wobei man natürlich mit der Zeit auch
       immer öfter Leute wieder trifft und Freundschaften schließt. Und ich mag es
       natürlich auch, auf der Bühne zu stehen. Ich mag es, wenn Leute zuhören.
       Man weiß direkt, wofür man das alles macht. Eine Zeit lang habe ich
       Kinderkonzerte gemacht, und wir haben da auch relativ moderne Sachen
       gespielt, die nicht unbedingt für Kinder geschrieben wurden. Da war es am
       extremsten. Wenn man die fesseln kann, dann flippen die total aus. Und wenn
       man sie nicht fesseln kann, dann laufen sie herum, unterhalten sich, keiner
       applaudiert. Kinder sind das härteste Publikum.
       
       Was mögen Sie nicht an Ihrer Arbeit? 
       
       An der Arbeit selbst mag ich alles. Aber ich habe eben Zukunftsängste. Es
       ist ja eh schon schwierig. Und es ist abzusehen, dass es immer schwieriger
       werden wird. Im ganzen Kulturbereich wird immer mehr gekürzt. Die Ersten,
       die es trifft, sind die Freien. Es kommt immer öfter vor, dass der Dirigent
       die Stücke fürs Programm auswählt und dass der Geschäftsführer dann um
       andere Stücke bittet, die weniger Aushilfen verlangen. Das wird nicht
       besser werden.
       
       Wo in der Hierarchie stehen Sie? 
       
       Als Freiberufler ist man weit unten. Es gibt Kollegen, die einen
       Arbeitsvertrag haben, aber darum nicht unbedingt besser spielen, im
       Gegenteil. Und dann meinen die halt, herablassende Kommentare absondern zu
       müssen, während man zusammen auf der Bühne steht und an einem Stück
       arbeitet. Aber das ist zum Glück nicht die Regel.
       
       Wer kontrolliert Sie? 
       
       Ich kontrolliere mich selbst. Die höchste musikalische Kontrollinstanz im
       Orchester ist natürlich der Dirigent. Er muss sehen, dass aus 80 oder 90
       Musikern eine Einheit wird. Die Kollegen kontrollieren auch viel mit. Nicht
       aktiv, aber durch soziale Kontrolle.
       
       Was würde passieren, wenn Sie Fehler machen würden? 
       
       Jeder macht mal Fehler, das ist überhaupt kein Problem. Wo es problematisch
       wird, ist, wenn man immer den gleichen Fehler macht oder vermeidbare
       Fehler, wenn man nicht aufpasst. Wenn man unkonzentriert ist. Das kriegt
       man schon sehr direkt mitgeteilt. Wenn einem das dauernd passieren würde,
       dann könnte sich das auch auf die Auftragslage auswirken.
       
       Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Arbeit ausreichend wertgeschätzt wird? 
       
       Unter Kollegen natürlich schon. Meine Familie hat mich auch immer
       unterstützt, wenn sie sich auch alle Sorgen machen. Allerdings ist die
       Musik der Gesellschaft nicht viel wert. Ich bin immer wieder erstaunt, wie
       viele gebildete Leute gar nichts über Musik wissen. Die haben überhaupt
       keine Vorstellung. Wenn ich erzähle, dass ich Musiker bin, höre ich ganz
       oft: „Aha, und sonst? Womit verdienst du dein Geld?“ Das geht durch alle
       sozialen Schichten.
       
       Wie viel bekommen Sie pro Stunde oder Monat bezahlt? 
       
       Im Moment ist die Auftragslage schlecht. Früher hatte ich etwa zehn
       regelmäßige Auftraggeber, in der Summe ging es also ganz gut. Das hat sich
       aber extrem ausgedünnt. Das liegt erstens an den erwähnten Kürzungen im
       Kulturbereich. Zweitens wächst die Konkurrenz, heute studieren dreimal mehr
       Leute Schlagzeug als zu meiner Zeit, und das Niveau steigt. Und drittens
       liegt es an meiner privaten Situation. Bevor ich mein Kind bekam, habe ich
       Tourneen und viele Aufträge außerhalb Berlins angenommen. Das geht
       besonders seit der Trennung von meiner Frau nicht mehr, wo ich mein Kind an
       festgelegten Wochentagen betreue. Ich hoffe, dass sich das mit der Zeit
       normalisieren wird und wir in Zukunft auch hin und wieder tauschen können.
       Was die Bezahlung angeht: Es gibt freie Orchester, die zahlen 200 Euro pro
       Projekt, das heißt für zwei oder drei Proben, öffentliche Generalprobe plus
       Konzert. Es gibt Orchester, die zahlen pro zweieinhalb Stunden Probe 40
       Euro und pro Konzert 80 Euro. Wenige Orchester zahlen für zweieinhalb
       Stunden Probe 75 und für ein Konzert 110 Euro. Da kann man zwar immer noch
       nicht das große Geld verdienen, aber man hat wenigstens ein bisschen das
       Gefühl, es wird anerkannt, was man macht. Ganz große Orchester wie das
       Rundfunkorchester zahlen 140 für eine Probe und 180 für ein Konzert. Das
       ist dann schon richtig toll. Als die Auftragslage besser war, bin ich auf
       1.500 Euro brutto im Monat gekommen. Aber damals habe ich in einer WG
       gewohnt, mein Zimmer hat 80 Euro Miete gekostet. Da hat das alles gut
       geklappt. In den letzten drei Jahren habe ich von einer kleinen Erbschaft
       gelebt. Die ist seit einem Monat weg. Jetzt habe ich schon angefangen,
       Instrumentarium zu verkaufen. Ich stehe mit dem Rücken zur Wand.
       
       Fühlen Sie sich angemessen bezahlt? 
       
       Nein, natürlich nicht.
       
       Mit wem konkurrieren Sie? 
       
       Mit einer Menge freiberuflicher Musiker in Berlin.
       
       Mit wem kooperieren Sie? 
       
       Mit den Musikern, mit denen ich zusammen spiele.
       
       Was tun Sie, um Ihre materielle Situation zu verbessern? 
       
       Politisch mache ich nichts. Aber ich habe schon länger Pläne, also eine
       Geschäftsidee, die ich wegen meiner privaten Probleme in der letzten Zeit
       nicht in Angriff nehmen konnte.
       
       Arbeiten Sie am Wochenende oder nachts? 
       
       Ja, wenn Konzerte sind.
       
       Wie viel Urlaub haben Sie? 
       
       Den nehme ich mir – auch wenn ich eigentlich die ganze Zeit vorm Telefon
       sitzen müsste.
       
       Wie viel Geld haben Sie im Monat zu Verfügung? 
       
       Ich habe das, ehrlich gesagt, noch nie so genau zusammengerechnet. Über den
       Daumen gepeilt habe ich etwas mehr als 1.000 Euro Fixkosten im Monat
       inklusive Miete, Auto, Versicherungen, Telefon. Ich lebe sehr sparsam.
       Okay, Kaffee trinken und Eis essen könnte ich natürlich noch weglassen,
       aber ein bisschen will ich ja auch am sozialen Leben teilnehmen.
       
       Wer lebt von diesem Geld? 
       
       Mein Kind und ich. Die Behörden prüfen, ob auch meine zukünftige Exfrau
       davon leben könnte. Aber da gibt es nichts zu holen.
       
       Wie viel Geld bräuchten Sie, um gut über die Runden zu kommen? 
       
       1.600 netto.
       
       Sparen Sie Geld? 
       
       Ich zahle ein bisschen Geld in eine private Altersvorsorge ein.
       
       Reden Sie mit Freunden über Geld? 
       
       Ja, manchmal.
       
       Wer leiht Ihnen Geld, wenn Sie welches brauchen? 
       
       Meine Schwester.
       
       Was hätten Sie gern, was Sie sich aus finanziellen Gründen nicht leisten
       können? 
       
       Oh, ich hätte so vieles gern. Ich hätte gern einen kleinen Campingbus. Und
       dazu ein Paddelboot. Dann könnte man öfter rausfahren in die Natur.
       
       Wo wohnen Sie und mit wem? 
       
       Ich wohne in einer Vierzimmerwohnung in Friedrichshain zur Miete. Die
       Wohnung ist für die Lage sehr günstig, deshalb will ich sie unbedingt
       halten. Ich hoffe, dass ich irgendwann mal wieder eine größere Wohnung
       brauche. Wenn ich jetzt ausziehe und in zwei, drei Jahren wieder anfange,
       eine größere Wohnung zu suchen – so eine Wohnung finde ich nie wieder. Ich
       werde jetzt ein Zimmer untervermieten.
       
       Wer macht den Haushalt? 
       
       Ich.
       
       Wie viel Platz haben Sie? 
       
       Ich habe viel Platz, ich bin sehr glücklich mit meiner Wohnung.
       
       Wie viele Kinder haben Sie? 
       
       Eins.
       
       Wie viel Zeit verbringen Sie mit Ihrem Kind? 
       
       Meine Frau und ich lassen uns gerade scheiden und haben uns auf ein
       Wechselmodell geeinigt. Das heißt: Ich habe mein Kind von Montag bis
       Mittwoch morgens, seine Mama übernimmt es von Mittwochabend bis Freitag. Am
       Wochenende wechseln wir uns ab. Dieses Jahr haben wir uns geeinigt, dass
       ich das Kind in den Kita-Ferien nehme, im nächsten Jahr ist dann seine Mama
       dran. Ich denke, ich sehe mein Kind immer noch mehr als andere, die
       Vollzeit arbeiten.
       
       Als Ihr Kind geboren wurde, haben Sie sich da mehr Zeit oder auch mal
       freigenommen? 
       
       Nein, weil meine Frau nicht berufstätig war. Wir hätten es uns nicht
       leisten können, dass ich Elternzeit nehme. Aber um die Geburt herum habe
       ich mir viel frei gehalten. Das war schon toll.
       
       Haben Sie Personen, die Sie unterstützen? 
       
       Meine Schwester.
       
       Wer kümmert sich um das Kind, wenn Sie krank sind? 
       
       Das kam bis jetzt nicht vor.
       
       Glauben Sie, dass es Ihnen im Alltag gut möglich ist, Familie und Beruf zu
       vereinbaren? 
       
       Nein.
       
       Wie viel schlafen Sie? 
       
       Genug. Ich schlafe sogar oft mit der Gutenachtgeschichte ein.
       
       Wann waren Sie zum letzten Mal krank? 
       
       Das ist zum Glück auch schon eine Weile her. Ich glaube, dieses Jahr war
       ich überhaupt noch nicht krank.
       
       Fühlen Sie sich gestresst? Was macht Ihnen am meisten Druck? 
       
       Ich fühle mich weniger gestresst, wenn ich viel zu tun habe.
       
       Waren Sie schon mal arbeitslos? 
       
       Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Hartz IV-berechtigt wäre.
       
       Haben Sie Angst vor Arbeitslosigkeit? 
       
       Mir wäre das ziemlich unangenehm, Hartz IV zu beantragen. Ich habe Angst
       vorm Papierkrieg. Außerdem möchte ich nicht um Geld betteln. Und ich will
       mir nicht eingestehen müssen, dass ich es selbst nicht schaffe.
       
       Können Sie sich selbst vorstellen, nicht zu arbeiten? 
       
       Wenn ich diese Existenzangst nicht hätte, dann käme ich vielleicht endlich
       mal dazu, Sachen anzugehen, die ich schon lange machen will. Ich wäre viel
       produktiver, wenn ich nicht immer diesen finanziellen Druck hätte. Es ist
       schön, in der Hängematte zu liegen, aber man sollte sich auch von irgendwas
       erholen können.
       
       Wenn es ein bedingungsloses Einkommen gäbe, wie hoch müsste es sein? 
       
       Es müsste so hoch sein, dass man die laufenden Kosten oder wenigstens die
       Miete zahlen könnte. 1.000 Euro wären gut.
       
       Wie würden Sie die Klasse oder Schicht bezeichnen, aus der Sie stammen? 
       
       Ich komme aus der Arbeiterklasse.
       
       Fühlen Sie sich aus irgendeinem Grund benachteiligt? 
       
       Es ist nicht leicht, Süddeutscher in Berlin zu sein. Schon gar nicht, wenn
       man vor 15 Jahren an der Hochschule für Musik Hanns Eisler studiert hat, in
       einer Ostberliner Institution, wo noch alles nach DDR roch. Aber bei
       Musikern ist es nicht wichtig, welchen Stallgeruch man hat – mein Prof ist
       von der Realschule geflogen. Da geht es eher um die künstlerische
       Persönlichkeit, wenn man Karriere machen will.
       
       Wo in der Gesellschaft würden Sie sich einordnen? 
       
       Mittelloser Akademiker. Oder auch: kreatives Prekariat.
       
       Was macht Ihnen am meisten Sorgen, wenn Sie an die Zukunft denken? 
       
       Das Geld.
       
       Wie wünschen Sie sich Ihr Leben und Ihre Arbeit in zehn Jahren? 
       
       Keine Ahnung. Ich wünsche mir kein anderes Leben. Ich wünsche mir nur, dass
       ich von den Dingen, die ich mache, gut leben kann. Da wäre ich total
       zufrieden.
       
       Wer oder was entscheidet, ob sich das verwirklichen lässt? 
       
       Ich fürchte, dass es hauptsächlich an mir liegt. Ich will es nicht immer
       auf mein Umfeld schieben, wenn es mir schlecht geht. Andererseits stimmt es
       natürlich, dass die Strukturen, die Leuten wie mir zur Verfügung stehen,
       vorn und hinten nicht funktionieren.
       
       15 Aug 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Messmer
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
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