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       # taz.de -- Debatte Neonazistische Straftäter: Bloß keine rechte Spur!
       
       > Hinweise auf rechtsextreme Hintergründe bei Straftaten werden immer
       > wieder systematisch ausgegrenzt. Das war nicht nur im Fall des Zwickauer
       > Mordtrios so.
       
   IMG Bild: Ungesühnt: 10 Menschen starben beim Brandanschlag auf diese Lübecker Flüchtlingsunterkunft am 18. Januar 1996
       
       Neun Monate Ermittlungen über den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)
       haben deutlich gemacht: Die Strafverfolger waren über die Jahre in erster
       Linie bemüht, Spuren zu verwischen, die auf einen rechten Hintergrund der
       Morde schließen lassen.
       
       Da wurden Akten zerschreddert, Beweismaterialien ignoriert und Erkenntnisse
       zurückgehalten, um zu verhindern, dass neonazistische Täter verfolgt und
       die Rolle von Verfassungsschützern offengelegt wird. Zugleich entwickelten
       die Ermittler unglaubliche Fantasie, als es galt, die Schuldigen im
       vermeintlich kriminellen Umfeld der migrantischen Opfer zu suchen. Man
       bastelte falsche Dönerbuden und entdeckte Verbindung zu ominösen Netzwerken
       des organisierten Verbrechens in der Türkei.
       
       Das alles mag erschrecken, hat aber schon lange System. Bereits bevor Beate
       Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt abtauchten, zählten einseitige
       Ermittlungen bei mutmaßlich rassistischen Attentaten zum Standardrepertoire
       von Kriminalisten und Strafverfolgern. Zwei Fälle setzten hier Maßstäbe:
       der Angriff auf ein von der türkischen Migrantenfamilie Ünver bewohntes
       Haus in Hattingen 1993 sowie der Brandanschlag auf eine
       Flüchtlingsunterkunft in Lübeck 1996, bei dem zehn Menschen starben.
       
       Nach beiden Angriffen waren die Brandstifter schnell gefunden. Für das
       Hattinger Feuer musste sich die Familienmutter Yasar Ünver vor Gericht
       verantworten, in der Hansestadt wurde gegen den Hausbewohner Safwan Eid
       verhandelt. Gegen beide lagen praktisch keine Beweise vor, beide saßen
       monatelang im Gefängnis, beide wurden freigesprochen.
       
       Ein einziges Indiz konnten die Ermittler gegen den Libanesen Eid
       vorbringen. Er sollte einem Sanitäter auf der Fahrt ins Krankenhaus die Tat
       gestanden haben. Diese Aussage beflügelte die Fantasie der Strafverfolger.
       Von kriminellen Machenschaften im Haus war die Rede. Und von Streitigkeiten
       unter den Flüchtlingen, obwohl fast alle Bewohnerinnen und Bewohner von
       guten Verhältnissen untereinander sprachen. Zudem streuten die
       Staatsanwälte offensichtlich falsche Informationen. So behaupteten sie, Eid
       habe dem Sanitäter den genauen Ort des Brandausbruchs geschildert. Davon
       war aber in der Aussage nicht die Rede – ganz abgesehen davon, dass man bis
       heute nicht weiß, wo das Feuer genau seinen Ausgang nahm.
       
       Wer tatsächlich für den Anschlag vom 18. Januar 1996 verantwortlich war,
       ist ungeklärt. Viel spricht dafür, dass rechte Gewalttäter gezündelt haben.
       Wenige Stunden nach der Tat hatte die Polizei vier junge Deutsche aus dem
       mecklenburgischen Grevesmühlen festgenommen, die nachts in der Nähe des
       Gebäudes gesehen worden waren.
       
       Bei drei der Männer stellten Gerichtsmediziner versengte Wimpern,
       Augenbrauen und Haare fest. Maik W., der sich auch gern „Klein-Adolf“
       nennen ließ, war den Behörden bekannt, weil er Hakenkreuze gesprüht hatte,
       Dirk T. hatte an den Rostocker Pogromen von 1992 teilgenommen. Für ihre
       Verbrennungen lieferten sie skurrile Erklärungen: Maik W. will einen Hund
       mit Haarspray eingesprüht und angezündet haben. René B. schilderte, er habe
       im Dunkeln Benzin aus seinem Mofa abgezapft. Um etwas zu sehen, habe er ein
       Feuerzeug angezündet, und so sei eine Stichflamme entstanden. Diese
       Aussagen wurden in der Folge nicht mehr infrage gestellt, obwohl
       Untersuchungen ergaben, dass sich die Männer ihre Verbrennungen in den 24
       Stunden vor ihrer Festnahme zugezogen haben müssen.
       
       ## Staatsanwälte ohne Interesse
       
       Doch merkwürdige Einlassungen und rechtsradikale Vorgeschichten konnten die
       Ermittler ohnehin nicht beirren. Nachdem Polizisten bestätigten, drei der
       Männer zum Tatzeitpunkt an einer von der Hafenstraße weit entfernten
       Tankstelle gesehen zu haben, wurde das Mecklenburger Quartett wieder
       freigelassen. Das Alibi erwies sich als fragwürdig, zudem wusste zu diesem
       Moment niemand, wann das Feuer genau ausgebrochen war. Doch die
       Bundesanwälte ließen keine Zweifel: „Die zunächst als tatverdächtig
       angesehenen Jugendlichen scheiden bereits am 19. Januar wieder aus.“
       
       Bis heute weigern sich die Strafverfolger, das Verfahren wieder
       aufzunehmen. Dabei haben sich die Männer geradezu bemüht, ihre Täterschaft
       zu beweisen. Vor dem Brand erläuterte Maik W. einem Freund, er werde in
       Lübeck etwas anzünden oder habe es schon getan, später prahlte er damit, an
       dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein. So gegenüber Mithäftlingen des
       Gefängnisses Neustrelitz, wo er 1998 wegen Autodiebstahls einsaß.
       
       Die Lübecker Staatsanwälte zeigten jedoch wenig Interesse an den Aussagen,
       wie Haftleiter Peter Danneberg irritiert feststellen musste. Auch eine
       weitere Spur wurde nie verfolgt: Dirk T. hatte offenbar vor seiner
       Festnahme einen Draht zu den Staatsschützern des LKA. Manches spricht
       dafür, dass er für die Behörde als V-Mann tätig war.
       
       ## Straflose Verbrechen
       
       Wollen die Strafverfolger also verhindern, dass Verbindungen zwischen
       Behörden und militanten Neonazis bekannt werden? Oder haben die Geheimen
       sogar mitgezündelt? Spätestens seit den NSU-Enthüllungen ist selbst dieser
       Verdacht nicht auszuschließen. Oder was könnte sonst dahinterstecken, wenn
       Verdächtige nicht verfolgt werden, die ihren Anschlag ankündigen, vor Ort
       gesehen werden und später mit ihrer Täterschaft prahlen?
       
       Fragen, die geklärt werden müssen. Die Ermittlungen gegen die
       Grevesmühlener müssen wieder aufgenommen werden. Die Lübecker
       Straflosigkeit hat das Bild aufrechterhalten, nachdem Migranten und
       Flüchtlinge selbst für das ihnen zugefügte Leid verantwortlich sind – und
       es damit auch den Fahndern der NSU-Morde leicht gemacht, nach diesem Schema
       zu ermitteln. Zudem haben die Staatsanwälte Neonazis wie dem Zwickauer Trio
       signalisiert: Wer Migranten angreift, muss nicht mit Verfolgung rechnen.
       
       Straflosigkeit, das weiß man aus Ländern mit großen
       Menschenrechtsproblemen, schafft den Freiraum für die nächste Tat. Deshalb
       gilt auch nach 16 Jahren: Bleibt der Lübecker Anschlag ohne strafrechtliche
       Konsequenzen, schafft er den Boden für weiteres Morden. Wer die
       Strafverfolgung verhindert, macht sich mitschuldig.
       
       6 Aug 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolf-Dieter Vogel
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