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       # taz.de -- Preminger-Retrospektive in Locarno: Ein großer Dickschädel aus Wien
       
       > Otto Preminger war ein streitbarer Kontrollfreak, der seinen
       > Schauspielern nichts schenkte. Trotzdem haben seine bedrückend schönen
       > Filme einen freien Geist.
       
   IMG Bild: Joan Crawford als Daisy Kenyon im gleichnamigen Film – leicht hatte es die Schauspielerin unter Preminger sicher nicht.
       
       „Ich, Waldo Lydecker, war der einzige Mann, der sie kannte.“ Das sagt der
       Kunstsammler und Journalist in „Laura“ aus dem Jahr 1944. Dieser Film noir,
       mit dem der gebürtige Wiener Otto Preminger sich einen Namen in Hollywood
       machte, ist eine besonders düstere Variante des Pygmalion-Stoffes.
       
       Der gebildete, ältliche Lydecker glaubt, Laura in seiner Hand zu haben, hat
       er sie doch nach seinem Willen geformt. Er hat ihre Karriere angestoßen,
       ihr beigebracht, sich wie eine Frau zu bewegen, ihre Kleider und die
       extravaganten Dreieckshütchen ausgesucht. Auch wenn es keine äußerlichen
       Übereinstimmungen gibt, ist dieser narzisstische Schöpfer ein Alter Ego
       Otto Premingers, der sein Schaffen auf ähnlich besessene Weise in der Hand
       oder besser: in einer Art kreativem Schraubstocksystem umklammert hielt.
       
       Im Hollywood der 50er- und 60er-Jahre war ein Otto-Preminger-Film ein
       fester Begriff, eine Art eingetragenes Markenzeichen. Als
       Produzenten-Regisseur kontrollierte Preminger jedes Detail seiner Projekte,
       von der Stoffauswahl bis zur Drehbuchkonzeption, von der Besetzung bis zur
       Werbekampagne, vom Dekor bis zum Titelschriftzug.
       
       ## Schauspieler zerschreddert
       
       Schaut man sich Fotos seiner Dreharbeiten an, bildet sein skulpturaler
       runder Schädel stets das Zentrum des Geschehens. Etwas Bestimmendes,
       Beherrschendes geht von dem kahlen Kopf mit den wachen Augen aus, die
       keinen Widerspruch zu kennen scheinen. Nannte man ihn nicht „Otto the
       terrible“?
       
       Am Set muss Preminger, der sein Regiehandwerk um 1930 bei Max Reinhardt am
       Theater in der Wiener Josefstadt erlernte, die Schauspieler mit extrem
       vielen Takes regelrecht provoziert und zerschreddert haben. Zudem bestand
       er auf der für Studio-Schauspieler ungewohnten Praxis mehrwöchiger Proben
       vor Drehbeginn. „Schauspieler müssen sich der Rolle anpassen und nicht
       umgekehrt“ war eine seiner Devisen. Und: „Wiederholungen schaden nichts,
       denn eine Emotion nutzt sich nicht ab.“
       
       Wie diese Emotionen auszuschauen hatten, davon hatte Preminger eine präzise
       Idee. Man denke nur an Jean Simmons in „Angel Face“ (1953): Lange schwarze
       Haare umschmiegen ihre unschuldigen Gesichtszüge, doch manchmal, wenn sich
       ihre Augen zu einem Schlitz zusammenziehen, spürt man den Hass, der die
       junge Frau mehr und mehr in Besitz nimmt, sie zerfrisst und zu mörderischen
       Taten treibt.
       
       Oder Marilyn Monroe, die in dem Western „River of no Return“ (1954) in
       ihrem fast ikonischen karierten Hemd und den engen Jeans zu einer
       gebrochenen Figur wurde. Der Weg zu dieser Vorstellung muss die Hölle
       gewesen sein. Preminger, der kaum je freundliche Worte für seine
       Schauspieler hatte, verglich Monroe mit Lassie. „Man muss jede Einstellung
       vierzehnmal wiederholen, bis sie an der richtigen Stelle bellt.“ Oder, noch
       schlimmer: „Sie ist nichts anderes als ein Vakuum mit zwei Brustwarzen.“
       
       ## Wer nicht hört, fliegt raus
       
       Sosehr er die Darsteller einerseits beschimpfte und tyrannisierte, so sehr
       kämpfte er andererseits auch um sie, setzte seine Wahl und seine
       Vorstellung mit eisenharter Vehemenz durch. Oftmals auch ohne Rücksicht auf
       Starverluste. Als sich Lana Turner in „Anatomie eines Mordes“ (1959)
       weigerte, einen billigen Mantel anzuziehen, um nicht wie ein Flittchen
       auszusehen, wurde sie kurzerhand gegen Lee Ramick ausgewechselt. Eine
       ungeahnt spröde Erotik erschien mit dieser damals noch völlig unbekannten
       Schauspielerin auf der Leinwand. Eine sexuelle Ausstrahlung, die sich erst
       auf den zweiten, ja dritten Blick erschließt, dafür aber um so nachhaltiger
       wirkt.
       
       Auch für seine „Saint Joan“ (1957) suchte Preminger einen neuen
       Frauentypus. Er fand und, man kann wohl sagen: erfand Jean Seberg, die mit
       reduzierten Mitteln und kahlgeschorenem Kopf als heilige Johanna echte
       Trauer und himmelschreiende Verzweiflung auszudrücken vermochte. Auch bei
       ihrer nächsten Zusammenarbeit, der Beststeller-Adaption „Bonjour Tristesse“
       (1958) sollte Seberg mit knabenhafter Figur, kurzen blonden Haaren und
       staksigen Schritten das bis dahin gängige, explizit weiblich angelegte
       Schönheitsideal unterwandern.
       
       Das Kino als Wille und als Vorstellung – streitsüchtig, unnachgiebig und
       kompromisslos auf seinen Ideen beharrend war Otto Preminger auch, wenn es
       um seine Stoffe ging. Der 1905 geborene Sohn aus bildungsbürgerlicher
       jüdischer Juristenfamilie musste, bevor er zum Theater durfte, ein Studium
       der Rechtswissenschaften absolvieren.
       
       In seinen Filmen wird der 1934 nach Hollywood emigrierte Preminger später
       denn auch immer wieder juristische Themen aufgreifen, Gerichtsprozesse und
       große Wortgefechte inszenieren. Auch er selbst als Regisseur scheute nicht
       den juristischen Konflikt mit den Autoritäten. „Ich bin überzeugt, wenn
       Zensur droht, sollte man sie bekämpfen, weil in den USA gemäß der
       Verfassung keine zugelassen ist“, sagte er auf seine apodiktische Art.
       
       ## Keine Angst vor McCarthy
       
       Diesen Kampf nahm der liberal denkende Preminger immer wieder auf. Die bis
       dahin untersagten Worte „Jungfrau“ und „Orgasmus“ fielen zuerst in seinen
       Filmen. Er nannte den Namen eines Drehbuchautors von McCarthys Schwarzer
       Liste wieder mit vollen Namen im Abspann: Dalton Trumbo bei „Exodus“. In
       „Der Mann mit dem goldenen Arm“ griff er 1955 das vom Production Code
       verbotene Thema Drogensucht auf; bei der Bizet-Adaption „Carmen Jones“
       (1954) besetzte er, damals für die USA eigentlich undenkbar, die
       Hauptrollen mit schwarzen Darstellern.
       
       Tatsächlich errichtete sich Preminger, der große Dickschädel aus Wien, ein
       wahrhaft ottokratisches Universum in Hollywood. Ein Universum, das durch
       und durch von der liberal-subversiven europäischen Moderne geprägt war, die
       er mit den Mitteln des populären Kinos nach Hollywood zu holen versuchte.
       
       Es war sicher kein Zufall, dass Preminger seine Karriere als
       Film-noir-Regisseur begann. Auch der Expressionismus des Genres liebte das
       Spiel mit Licht und Schatten, mit moralischen Zwielichtigkeiten, ließ die
       Umgebung im Dunkel verschwinden, um eine Person oder ein Detail zu
       fixieren. Unglaublich einsam wirken Premingers Figuren, wenn er sie in
       einem frühen Film auf überfüllte Straßen stellt, deren regennasser Asphalt
       unwirtlich glänzt.
       
       Manchmal leuchtet er nur ein Profil aus, einen Umriss, so dass seine Helden
       und Heldinnen völlig von ihrer Umgebung isoliert werden. In „Faustrecht der
       Freiheit“ (1950) gibt es sogar kaum eine Szene, die am helllichten Tage
       spielt. Preminger kreiert eine Welt, in der die Dunkelheit endgültig das
       Licht zu bezwingen scheint. Die ohnehin pessimistische Weltsicht des Film
       noir bekam bei ihm eine Endgültigkeit, die kein Entkommen mehr kennt.
       
       Die meisten dieser Filme spielen in New York, die bürgerliche und
       kleinbürgerliche Welt Manhattans dürfte Preminger vertrauter gewesen sein
       als das sonnige Lebensgefühl in Kalifornien. Betritt man in „Laura“
       gemeinsam mit der Kamera das Wohnzimmer Waldo Lydeckers, glaubt man sich
       bei einem exzentrischen europäischen Kunstsammler zu Gast.
       
       Lauras übermöblierte Wohnung wiederum wirkt fast schon antiquiert, so als
       bleibe in den Zimmern letztlich kein Platz mehr zum Leben. Hier geben sich
       Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten und mit höchst konträren
       Weltsichten die Klinke in die Hand – und man fühlt sich ein wenig an Artur
       Schnitzlers „Der Reigen“ erinnert. Die Frivolität des Schnitzler-Stückes
       hallt auch in den messerscharfen Dialogen zwischen Laura und ihrem Mentor
       nach.
       
       ## Macht und Verführung
       
       Letztlich dient der Mord an der Heldin in diesem Film nur als Anlass, um
       auf allerhöchstem diskursivem Niveau über Macht und Verführung, Sehnsucht
       und das Verlangen nach Liebe zu sinnieren. Derweil richtet sich der
       ermittelnde Polizist in der Wohnung der Toten ein; er empfindet ihre
       Abwesenheit als ein Vakuum, füllt es mit der eigenen Leidenschaft und
       seinem Liebessehnen.
       
       Eines Nachts schläft der Beamte auf einem Sessel ein. Plötzlich hört man,
       wie sich ein Schlüssel im Schloss herumdreht. Die Tür geht auf, die
       totgeglaubte Laura tritt herein. Weiß Preminger und wissen wir nicht
       spätestens seit Schnitzlers „Die Traumnovelle“, dass die Wunschvorstellung
       genauso wahr wie die Wirklichkeit sein kann?
       
       Nicht nur in „Laura“ gibt Preminger den Gefühlen großzügig Zeit und Raum,
       auf dass sie auch den hintersten Winkel der Erzählung ausfüllen. Er ist ein
       Regisseur mit einer großen Vorliebe für die ungeschnittene Einstellung, für
       die bruchlose Mise-en-Scène, egal, ob er in Innen- oder Außenräumen dreht:
       Ob er seine Figuren in einer voll gestopften New Yorker Wohnung platziert,
       sie wie in „Der Mann mit dem Goldenen Arm“ durch Jazzclubs ziehen oder in
       „Exodus“ auf Palästina blicken lässt: Stets verlieren sie sich in den
       Räumen, Landschaften, wirken in ihrer Vereinzelung und Sehnsucht noch
       einsamer.
       
       Und vielleicht ist „River of no Return“, in dem Marilyn Monroe, Premingers
       „Lassie“, eine ihrer großartigsten Darstellungen bot, der traurigste
       Western überhaupt. Obwohl in Cinemascope gedreht, verweigert er die Utopie
       der Landschaft, den Blick in die Ferne, der Zukunft und Perspektive
       verspricht. Drei Menschen zusammengepfercht auf einem Floß, der Fluss gibt
       die Richtung vor. Sosehr Preminger, der Ottokrat, alles in der Hand hatte,
       gibt es doch in seinen Filmen, und das ist das schöne Paradox seiner
       Kontrollsucht, stets den Moment, in dem das Leben und das Schicksal
       mächtiger als der Regisseur sind.
       
       2 Aug 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anke Leweke
       
       ## TAGS
       
   DIR Hollywood
       
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