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       # taz.de -- Luftverschmutzung in Italien: Unglaubliche Mengen von Dioxin
       
       > Die italienische Justiz beschlagnahmt ein Stahlwerk in Tarent, weil es
       > die Luft verpestet. Die Eigner werden verhaftet, die Arbeiter sind
       > erbost.
       
   IMG Bild: Die Arbeiter in Tarent sind sauer und blockieren eine Straße.
       
       ROM taz | Eine Stadt im Ausnahmezustand – so präsentierte sich das
       süditalienische Tarent am Freitag. Tausende Arbeiter demonstrierten durch
       das Zentrum, sie blockierten sämtliche Ausfallstraßen und die wichtigsten
       Verkehrsknotenpunkte, legten das öffentliche Leben völlig lahm, machten es
       unmöglich, nach Tarent hinein- oder aus der Stadt herauszukommen.
       
       Begonnen hatte der friedliche Aufruhr am Donnerstagnachmittag. Da hatte das
       örtliche Gericht eine Entscheidung bekannt gegeben, die wie eine Bombe
       einschlug: Großer Teile des Ilva-Stahlwerks von Tarent werden
       beschlagnahmt. Und Ilva-Eigentümer Emilio Riva und sein Sohn Nicola sowie
       sechs frühere Manager des Konzerns kommen in Untersuchungshaft. Das
       Rohmateriallager, die Kokerei, die Hochöfen, die Warmwalzstraßen – alles
       wird durch vom Gericht benannte Aufseher stillgelegt.
       
       Der Grund für die in italienischen Großbetrieben beispiellose Aktion:
       Untersuchungsrichterin Patrizia Todisco wirft den Werksbetreibern
       „Verseuchung der Umwelt“ in großem Ausmaß und als Folge eine extreme
       Häufung von Todesfällen durch Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor.
       
       „Dem Stahlwerk von Tarent in Eigentümerschaft der Familie Riva kann nicht
       gestattet werden, sich seiner Pflicht zu entziehen, den Schutz der
       Gesundheit und der Umwelt über die Logik des Profits zu stellen, die bisher
       in skrupelloser und zynischer Weise verfolgt worden ist“, schreibt die
       Richterin. Sie zitiert ein Gutachten, das für die letzten Jahre 174
       Todesfälle aufzählt und die Vervierfachung der Todesraten durch
       Herzkrankheiten in zwei Stadtvierteln vor den Toren des Werks bilanziert.
       
       ## Tarent ist abhängig vom Werk
       
       Doch Ilva ist nicht irgendein Arbeitgeber. In der 200.000-Einwohner-Stadt
       hängt die gesamte Ökonomie am Werk. 11.500 Menschen sind hier direkt
       beschäftigt, weitere Tausende bei Subunternehmen und Zulieferern. Zudem
       produziert hier ein großes Zementwerk dank der Zulieferung von
       Rohmaterialien durch Ilva. Und 70 Prozent des Hafenumschlags hängen am
       Stahl. 1964 lief in Tarent der erste Hochofen im damals noch staatlichen
       Werk an. Die Stadt erlebte einen rapiden Aufschwung.
       
       Seither verfügt Tarent aber auch über die größte Dreckschleuder Italiens.
       Nach Auskunft der regionalen Umweltbehörde von Apulien blies die Fabrik im
       Jahr 1994 die unglaubliche Menge von 800 Gramm Dioxin in die Luft, selbst
       2007 waren es noch 200 Gramm. Das sind über 90 Prozent des gesamten
       Dioxinausstoßes in Italien.
       
       Die Umweltorganisation Legambiente macht das Werk zudem verantwortlich für
       jährlich 32 Tonnen polymerische Verbindungen, 74 Tonnen Blei und 540.000
       Tonnen Kohlenmonoxid. Letzteres entspricht 80 Prozent des gesamten
       industriellen Ausstoßes Italiens. Erst in den letzten Jahren sank die
       Dioxinbelastung signifikant – auf allerdings immer noch beachtliche 3,5
       Gramm.
       
       Seit Jahrzehnten sind die Folgen dieser systematischen Umweltvergiftung in
       der Stadt bekannt: Lungenkrebs, Mesotheliome, Lymphome, Häufung von
       Missbildungen bei Föten schon im Mutterleib, stark erhöhte
       Dioxinkonzentrationen in der Muttermilch. Zum ersten Mal schon 1971
       protestierten Menschen vor den Werkstoren mit vom Kokereistaub schwarz
       eingefärbten Bettlaken.
       
       ## Politik auf seiner Seite
       
       2002 kam es zu einem ersten Prozess gegen den Ilva-Patriarchen Emilio Riva
       wegen Einbringung gefährlicher Substanzen in die Umwelt. Doch Ilva machte
       einfach weiter, stritt Verantwortung ab, behauptete, das technisch Machbare
       zu unternehmen, um die Abluft zu filtern.
       
       Auf seiner Seite hatte das Unternehmen immer wieder die Politik. So zog die
       Berlusconi-Umweltministerin Stefania Prestigiacomo noch 2008 Kontrolleure
       ihres Ministeriums ab, die im Ruf standen, zu streng zu sein. Jetzt aber,
       nach dem Gerichtsbeschluss vom Donnerstag, ist die Regierung in Rom
       aufgewacht. Der jetzige Umweltminister Corrado Clini fordert, den
       juristisch vorgesehenen Gerichtstermin zur Überprüfung des
       Beschlagnahmebeschlusses so rasch wie möglich durchzuführen, um den
       endgültigen Produktionsstopp abzuwenden.
       
       Zugleich stellten die Regierung und die Region Apulien mehr als 300
       Millionen Euro zur Sanierung verseuchten Geländes bereit. Und die Arbeiter
       von Ilva haben am Freitag den unbefristeten Streik beschlossen, um die
       Werksschließung zu verhindern.
       
       27 Jul 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Braun
       
       ## TAGS
       
   DIR Italien
       
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