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       # taz.de -- Placeboeffekt: Der Glaube an die Heilung
       
       > Scheinmedikamente wirken, indem sie biochemische Prozesse im Gehirn
       > anstoßen. Forscher zeigen, wie wichtig für die Therapie eine gute
       > Arzt-Patienten-Beziehung ist.
       
   IMG Bild: Glauben Sie uns: Das ist ein echtes Medikament und kein Placebo. Wirklich!
       
       Die Verzweiflung des US-amerikanischen Arztes Henry Beecher muss groß
       gewesen sein, als er im Zweiten Weltkrieg in Italien stationiert war und
       ihm das Morphium ausging. Wie sollte er nun die Schmerzen der Soldaten
       lindern? In seiner Not griff der Anästhesist zu einer Kochsalzlösung und
       injizierte sie den Verletzten. Und siehe da, dieses Scheinmedikament zeigte
       Wirkung.
       
       Die eindrückliche Erfahrung an der Front machte Beecher zum ersten
       Forscher, der seine Karriere dem Placeboeffekt widmete. 1955 erschien sein
       wissenschaftlicher Aufsatz: „The Powerful Placebo“. Trotzdem wurde der
       Placeboeffekt lange Jahre belächelt oder schlicht ignoriert.
       
       Schließlich könne ein Nichts nicht heilen, so die Argumentation. Doch seit
       fünf Jahren beschreiben Mediziner und Psychologen, beflügelt auch durch die
       Fortschritte in der Hirnforschung, immer detaillierter, wie Zuckerpillen
       und Rituale bei Verschreibung einer Therapie im Körper wirken.
       
       „Der Placeboeffekt ist real und hat therapeutisches Potenzial“, schrieb
       Damien Finniss, Schmerzspezialist an der Universität von Sydney unlängst im
       Fachblatt The Lancet. Und erst letztes Jahr hat die Bundesärztekammer (BÄK)
       dem Einsatz von Scheinmedikamenten eine enorme Bedeutung bescheinigt. Nicht
       nur in placebokontrollierten Studien, auch in der ärztlichen Praxis würden
       Placeboeffekte häufig genutzt.
       
       ## Schmerzen nach der OP gelindert
       
       Forscher sind heute überzeugt, dass der Glaube an eine Heilung neben
       Lernprozessen und der Arzt-Patienten-Beziehung den Placeboeffekt ausmachen.
       „Allerdings lässt sich derzeit noch nicht sagen, inwieweit diese Prozesse
       zusammenspielen und welcher Mechanismus welchen Anteil am Placeboeffekt
       hat“, meinte Manfred Schedlowski, Medizinpsychologe an der Uni
       Duisburg-Essen im März auf dem Kongress für Psychosomatische Medizin in
       München.
       
       Dass der Glaube heilt, haben schon viele Studien bewiesen. So hat eine
       Studie bereits 2004 ergeben, dass Schmerzen nach einer OP besser gelindert
       werden, wenn den Patienten bei Verabreichung eines sehr niedrig dosierten
       Schmerzmittels zusätzlich versichert wird, dass das Medikament auch
       bestimmt hilft.
       
       Und das geht so: Eine positive Erwartungshaltung führt im Gehirn dazu, dass
       vermehrt körpereigene Glücksbotenstoffe, Endorphine und Dopamin,
       ausgeschüttet werden. Die aus dem Limbischen System stammenden Endorphine
       dämpfen beispielsweise die Schmerzverarbeitung auf vielen Ebenen des
       Zentralen Nervensystems.
       
       Dopamin verursacht dagegen Hochgefühle und wird daher auch als Glückshormon
       bezeichnet. Zudem greift es in den Hormonhaushalt ein. Die Tatsache, dass
       der Placeboeffekt mit Endorphin-Gegenspielern rückgängig gemacht oder
       vermindert werden kann, lieferte einen Beweis für diese These.
       
       ## Präfrontaler Cortex
       
       Aber auch bildgebende Verfahren tragen zur Aufklärung des Effektes bei:
       Mithilfe von funktioneller Magnetresonanztomografie konnten Wissenschaftler
       zeigen, dass schmerzhemmende Systeme im Gehirn bei denjenigen Patienten
       aktiviert werden, die fest an eine Therapie glaubten.
       
       „Zudem hat man herausgefunden, dass die Wirkung eines Placebos von der
       Aktivierung des präfrontalen Cortex ausgeht“, sagt Robert Jütte, Mitglied
       des wissenschaftlichen Beirats der BÄK. Die Region ist unter anderem mit
       dem Limbischen System verbunden.
       
       Während die Vorfreude auf eine Linderung von Krankheitssymptomen bewusst
       abläuft, geschehen Lernprozesse eher unbewusst. Studien von Schedlowski
       haben beispielsweise gezeigt, dass das Immunsystem konditioniert werden
       kann. Dabei mussten gesunde Probanden erst einige Tage ein Milchshake
       trinken, das Ciclosporin A, ein Immunsupressivum, enthielt.
       
       Dieses Medikament blockiert den Botenstoff IL-2, was zu einer verminderten
       Aktivierung bestimmter Abwehrzellen führt. Nach einigen Tagen Pause tranken
       die Probanden nochmals das Shake, diesmal ohne Arznei. Das Ergebnis: Im
       Blut der Probanden waren wiederum die Abwehrzellen weniger aktiv. Dieser
       Mechanismus funktionierte auch bei Hausstauballergikern.
       
       ## Der Weg ins Gedächnis
       
       Für die Praxis bedeutet das, dass ein Patient eine positive Erfahrung mit
       einer bestimmten Behandlung machen muss, damit sich der biochemische Weg in
       sein Gedächtnis gräbt. Am besten erforscht sind Placebos bei der
       Schmerzlinderung: 20 bis 80 Prozent könnten hier auf das Konto von
       Scheinbehandlungen gehen.
       
       Aber auch bei Depressionen, Angststörungen, sexuellen Erregungsstörungen
       oder bei Infektanfälligkeit sind Placebos wirksam. Unklar ist noch, warum
       ein Teil der Menschen gut auf Placebos ansprechen, während andere nicht
       profitieren. „Daran wird intensiv geforscht“, berichtet Schedlowski.
       
       Dass die sogenannten Responder nicht besonders intelligent sind oder nicht
       unter wirklich schlimmen Krankheiten leiden, ist jedoch widerlegt worden.
       Eher scheinen Attribute wie Extraversion oder Offenheit gegenüber neuen
       Erfahrungen den Placeboeffekt zu steigern.
       
       Konkrete Ergebnisse aus der Placeboforschung werden sehnsüchtig erwartet.
       Beispielweise hat das Ciclosporin A erhebliche Nebenwirkungen. Eine
       niedrigere Dosierung könnte dem Patienten dann Komplikationen ersparen.
       
       ## Quantifizierung
       
       Auch forschende Pharmafirmen möchten den Placeboeffekt quantifizieren,
       damit echte von Scheineffekten getrennt werden können. Gesundheitsökonomen
       hoffen zudem darauf, dass mit Zuckerpillen Kosten eingespart werden
       könnten. Allerdings stehen die Mediziner vor einem ethischen Dilemma, wenn
       es darum geht, Placebos aktiv in der Praxis anzuwenden.
       
       Schließlich hat der Arzt dem Patienten gegenüber eine Aufklärungspflicht,
       er darf ihn also nicht täuschen. Schedlowski hält dieses Dilemma jedoch
       nicht für unlösbar. Beispielsweise könnte der Placeboeffekt helfen, die
       Dosierung von Medikamenten – mit Wissen des Patienten – zu reduzieren.
       „Auch bei einer solchen Vorgehensweise, partial reinforcement genannt,
       werden Lernprozesse angestoßen“, erklärt der Essener Forscher.
       
       Zudem könne der Placeboeffekt in Teilen auch wirken, wenn der Patient
       darüber Bescheid weiß, dass er nur Zucker als Wirkstoff erhalte. Das hat
       vor zwei Jahren eine Harvard-Studie unter Leitung von Ted Kaptchuk mit
       Reizdarmpatienten gezeigt. „Wichtig dabei ist die
       Arzt-Patienten-Interaktion“, so Schedlowski. Der Arzt könne beispielsweise
       erklären, dass das verschriebene Medikament ein Placebo sei, das aber
       durchaus wirke.
       
       ## Macht ärztlicher Rituale
       
       Auch das Wissen über Wirkmechanismen verstärkt den Glauben an die Therapie.
       Zeit für den Patienten, Fürsorge, Interesse, Zuhören – die Macht ärztlicher
       Rituale, wie sie auch viele Heilpraktiker anwenden, werden mit der
       Placeboforschung also erklärbar.
       
       Schedlowski ist darum überzeugt, dass die Erkenntnisse aus seiner Zunft
       gesundheitspolitische Konsequenzen haben werden: „Etwa, indem das
       Patientengespräch finanziell stärker honoriert wird.“
       
       13 Jul 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kathrin Burger
       
       ## TAGS
       
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